Polski Tango - Eine Reise durch Deutschland und Polen
ist Krakau das Gegenteil von Warschau, das einem einzigen großen Mahnmal des Zweiten Weltkrieges gleichkommt. Wer hingegen
durch Krakaus Straßen schlendert, an den zahlreichen Kirchen vorbei, zu dem alten Königsschloß auf dem Hügel Wawel hin, der
schlendert durch ein Freilichtmuseum der Renaissance. Die Spuren der Gewalt haben sich nicht im alten Stadtbild verewigt,
nur in den Köpfen der betagten Bewohner mögen sie überlebt haben, für immer.
Ich wohne im Hotel Ester, das in Kazimierz liegt, dem alten jüdischen Viertel, umgeben von vier Synagogen: der Synagoge Remuh,
die nach einem Rabbiner benannt ist, von dem es heißt, daß er Wunder vollbringen konnte, von der gotischen Hohen Synagoge,
der Isaak-Synagoge und von der Synagoge Kupe. Eine traurige Ansammlung von Gotteshäusern, da kaum noch Juden |160| in diesem Viertel wohnen. Nur noch die Fassaden künden vom einstigen jüdischen Leben, und künstlich wird derzeit wiedererweckt,
was unwiederbringlich verloren ist. Die Hotels heißen Ester oder Abraham, aber in ihnen arbeiten keine Juden. Und im Restaurant
Ariel in der Szeroka-Straße essen fast ausschließlich Touristen koschere Mahlzeiten.
Steven Spielberg hat vor ein paar Jahren Kazimierz zum Drehort von »Schindlers Liste« gemacht. Weil das Viertel zu diesem
Zeitpunkt so finster, so dunkel, so ausgestorben war. Und noch über 40 Jahre nach Kriegsende waren die Gassen so verstaubt
wie kurz vor der russischen Befreiung. Keine neuen Geschäfte und keine Leuchtreklame störten die blendende Lüge, die Spielbergs
Kamera erfaßte. Mittlerweile haben an jeder Straßenecke Kneipen eröffnet, und nur an wenigen Häuserwänden blättert noch der
Putz von der Fassade.
In meinem Hotel, in dem neue, aus massivem Kirschholz gefertigte Möbel in klassizistischen Formen stehen, spielen sie von
morgens bis abends Radio ZET, laute polnische Popmusik hallt durch den Speisesaal und junge Bedienstete in weißen Schürzen
lassen große Blasen ihrer Kaugummis in der Luft platzen. Zumeist gelangweilt, stehen sie hinter einem Tresen, während sie
mit ihren Handys spielen.
Und draußen, auf den Straßen, lugt verhalten der Frühling hervor aus dem Dickicht des Winters. Es ist |161| über Nacht deutlich wärmer geworden, eine Katze hat es eilig und rennt, nachdem sie die Ulica Szeroka überquert hat, am Hotelfenster
vorbei, bis ich sie, mein Frühstück einnehmend, aus den Augen verliere. Danach gehe ich die breite Ulica Stradomska entlang.
Die Wärme hat die Menschen auf die Straße getrieben. Da sitzen die ersten Frauen bereits draußen in Cafés und schlagen die
Beine übereinander. Und auf dem Marktplatz streut eine gebückte Greisin, die ein braunes Kopftuch trägt, in weitem Bogen Brotkrumen
auf die Erde. Vögel machen sich sogleich über sie her, gierig, sich gegenseitig mit spitzen Schnäbeln bekämpfend.
Die Zeitungen melden, daß die Kaczyński-Brüder mit den Parteien vom äußersten rechten Rand im Parlament eine Koalition bilden
werden. Ich ignoriere die Zeitungen, mag nicht der Verführung der Stadt entrissen werden. Denn einmal mehr glaube ich, wider
besseres Wissen, an das sanfte Polen, das harmlose, das sich inszeniert in Unschuld.
Durch die Straßen der Altstadt fließt eine Masse von jungen Menschen, alle sehen aus, als wären sie unter 30, junge Frauen,
die über das Kopfsteinpflaster stöckeln, ein lautes Klappern, so laut wie einst die Pferdewagen, die die Aristokraten zum
Wawel kutschierten. Manche Männer laufen breitbeinig die Straßen entlang. Es sind die »dresy«, übersetzt: »die Jogginganzüge«,
die Prolls, die testosterongestählten Glatzköpfe. Sie setzen sich |162| deutlich von den Anzugträgern ab, den Gewinnern der Wende. Sie haben nur die Jugend mit ihnen gemein.
Ich erinnere mich an einen Freund in Berlin, der Journalist ist. In seiner Redaktion hat eine Polin ein Praktikum gemacht.
Sie wunderte sich, weshalb es in Berlin Redakteure gibt, die älter als 40 Jahre sind. Das war sie von Krakau, wo sie arbeitete,
nicht gewohnt.
Am Marktplatz steht ein kleiner Kiosk. Ganz Polen ist von Kiosken übersät. So auch Krakau. Man muß sich bücken, sehr tief,
die Fensterluke hängt fast am Boden. Ich kaufe Zigaretten, die noch immer sehr viel billiger sind als in Deutschland. Und
Krakau ist schnell. Kein »Guter Tag« wird sich gewünscht und kein »Auf Wiedersehen« entboten, und man muß das Eis, das zwischen
Käufer und Verkäufer
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