Poltergeist
einander anzublicken. Am Ende der Straße hatte sich eine kleine Menschenmenge versammelt. Die Leute kamen jedoch nicht näher, sodass wir uns ungestört unterhalten konnten.
Endlich ergriff Solis wieder das Wort. »Wir wissen noch nicht, wie er umgekommen ist. Es sieht ganz so aus, als ob er gegen die Wand geschleudert worden wäre. Vielleicht war es ja auch ein Unfall.« Er klang nicht überzeugt. »Wir arbeiten daran. Wissen Sie irgendetwas, was uns weiterhelfen könnte? Welche Art von Experiment hat er heute denn versäumt?«
»Wann ist es genau passiert?«, stellte ich statt einer Antwort eine Gegenfrage und versuchte, nicht an den tanzenden Tisch zu denken.
»Vor etwa zwei bis drei Stunden. Ich werde mehr wissen, sobald der Autopsiebericht auf meinem Schreibtisch liegt. Also – was wissen Sie?«
Ich sah Solis an und überlegte fieberhaft. Lupoldi war also schon tot gewesen, bevor die Séance begonnen hatte. Vermutlich war er ermordet worden, während ich mit Quinton zu Mittag gegessen hatte.
Das Ganze beunruhigte mich zutiefst. Ich musste daran denken, was ich heute in St.-John gesehen hatte. Obwohl ich bisher davon ausgegangen war, dass Tuckman mit seiner Theorie falsch lag, gefiel mir die Vorstellung eines Poltergeistes plötzlich auch überhaupt nicht mehr. Ob echt oder künstlich – ein Wesen, das so etwas tun konnte, musste eine unglaubliche Kraft haben. Es war zwar eine verrückte Vorstellung, aber trotzdem würde Solis bestimmt daran interessiert sein, wenn ich ihm von der ganzen Geschichte erzählte. Jemand, der psychokinetische Phänomene
erzeugen konnte, war vielleicht auch in der Lage, einen Mann – ebenso wie einen Tisch – durch den Raum fliegen zu lassen. Einen künstlich erzeugten Geist würde mir Solis bestimmt nicht abnehmen – aber einen wahnsinnigen Mörder schon!
Widerstrebend begann ich also, meine Geschichte zu erzählen. »Bei dem Experiment handelt es sich um eine psychologische Studie an der PNU. Der zuständige Professor hat mich beauftragt, herauszufinden, wer in seiner Gruppe versucht, die Ergebnisse zu manipulieren. Die heutige Sitzung ist etwas aus dem Ruder gelaufen. Danach wollte ich mit Lupoldi sprechen, um ihn zu fragen, warum er nicht da war und ob er etwas darüber wüsste, weshalb das Ganze heute so schieflief.«
Solis betrachtete mich, ohne ein Wort zu sagen.
»Und ich habe ihn übrigens doch gekannt«, gab ich widerstrebend zu.
Er blinzelte und nickte dann nachdenklich. »Woher?«
»Er hat früher einmal im Antiquariat Old Possum’s gearbeitet, das zwei Blocks von hier entfernt liegt. Ich wusste nur, dass er Mark heißt, und erst jetzt, als ich sein Gesicht sah, wurde mir klar, dass es sich um denselben Mann handelt.« Wieder lief mir ein eisiger Schauer über den Rücken, der aber nichts mit dem kalten Regen zu tun hatte, der nun auf uns niederfiel.
Auf einmal war Lupoldi nicht mehr nur ein Name auf einer Liste, jemand, der grausam ermordet worden war. Nein – ich kannte ihn, wenn auch nur flüchtig, und es war dieser Bekannte, der auf furchtbare Art ums Leben gekommen war. Das Ganze sah für mich genauso wenig wie ein Unfall aus wie für Solis.
Er musste an meiner Miene erkannt haben, woran ich
dachte. »Ms. Blaine, ich muss Sie doch wohl nicht extra davor warnen, sich in die Ermittlungen in einem Mordfall einmischen zu wollen.«
»Vielleicht haben die beiden Fälle ja gar nichts miteinander zu tun«, gab ich zu bedenken. »Aber keine Angst – ich werde mich hüten, Ihnen auf die Zehen zu treten. Trotzdem kann ich meine Ermittlungen nicht einfach ruhen lassen, nur weil sie vielleicht mit den Ihren etwas zu tun haben könnten. Aber ich werde Ihnen alle Informationen zukommen lassen, die mir wichtig erscheinen. Einverstanden?«
»Und wenn es Ihr Klient ist, der etwas mit dem Mord zu tun hat?«
»Dann wird er mich wahrscheinlich nicht bezahlen, und ich werde auch kein allzu schlechtes Gewissen haben, wenn ich ihn verrate«, entgegnete ich.
Solis musste sich offenbar ein Lächeln verkneifen. »Gut.«
Ich wandte mich zum Gehen, blieb aber dann doch noch einmal stehen. »Ich werde mich jetzt zu Old Possum’s aufmachen. Ich kenne nämlich die Besitzerin und will ihr einige Fragen zu Lupoldi stellen. Soll ich ihr die schlechte Nachricht überbringen, oder wollen Sie das selbst tun?«
»Das möchte ich selbst tun. Ich werde später mit den Leuten im Buchladen sprechen.«
Ich nickte und machte mich auf den Weg den Hügel hinunter zum Antiquariat. Marks
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