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PolyPlay

PolyPlay

Titel: PolyPlay Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcus Hammerschmitt
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Der Suppenkoch wünschte ihm einen guten Abend.
    Als er auf die Straße trat, empfing ihn ein überraschender Anblick. Fünfzig Meter vom Ausgang des Restaurants entfernt hatte sich eine ziemliche Menschenmenge angesammelt. Der Mob wirkte ungewöhnlich dunkel und dicht, und während Kramer noch zögerlich darauf zulief, zersprang die angespannte Stille mit einem schneidenden Geräusch, das wie eine Mischung aus Kreissäge und Düsentriebwerk klang. Als er am Perimeter des Pulks ankam, wurde alles klar: Die Leute sahen nach oben, zu einem Mann mit Elektrogitarre, der auf dem Absatz einer eisernen Treppe stand und den Menschensalat zu seinen Füßen mit großer Gelassenheit betrachtete.
    Der Mann hatte seine dick verfilzten Haare zu einem wulstigen Nest zusammengebunden. Er trug eine Lederhose und einen schwarzen Pullover mit einem großen, fünfzackigen roten Stern. Irgendwie konnte Kramer sich trotzdem nicht vorstellen, dass der Gitarrist ein braves FDJ-Mitglied war. Er hatte natürlich längst begriffen, dass das hier ein »NKO-Konzert« sein musste. Die Regierung lockerte seit einiger Zeit auch in der Kunst die Zügel und nannte diese Politik NKO: Neue Kulturelle Offenheit. Das bedeutete, dass hin und wieder größere Zusammenrottungen erlaubt wurden, die vorgaben, einem künstlerischen Interesse zu dienen und dem staatlichen Kulturprogramm nicht allzu direkt widersprachen.
    Die Menschenmenge um ihn herum war ihm so dunkel und kompakt erschienen, weil hier fast jeder schwarz trug. Er sah ein paar schwarze Punk-Hahnenkämme, schmale Figuren mit schwarzen ponchoartigen Umhängen und langen Stöcken in der Hand, die ihm neu waren, und Grufties mit bleichen Gesichtern und Ankh-Kreuzen um den Hals.
    Kramer befand sich mitten in einem Auflauf oppositioneller Jugendlicher. Mit seinem hellen Malimoblouson und seinen Jeans kam er sich ziemlich fehl am Platz vor, etwa wie ein Spitzel, den man nicht über die herrschende Kleiderordnung aufgeklärt hatte. Er hatte ein mulmiges Gefühl und erkannte ziemlich schnell den Grund dafür. Die Szenerie erinnerte ihn entfernt an den unangenehmsten Polizeieinsatz, den er je mitgemacht hatte: die Räumung der Mainzer Straße im November 1990. Damals, nach dem Tod dieses 17-jährigen Hausbesetzers, hatte er daran gedacht, alles hinzuschmeißen. Jetzt war seine Neugier stärker.
    »Also gut, Leute«, sagte der Gitarrist, und seine verstärkte Stimme drang mühelos überallhin, »geht gleich los.«
    Kramer drehte sich noch einmal kurz um, in die Richtung, aus der er gekommen war, und er fand den Fluchtweg von Kollegen versperrt. Vorsorglich hatten sie Helme, Knüppel und Schilde mitgebracht und eine ganze Menge Mannschaftswagen und Gefangenentransporter auch. Wo waren die so schnell hergekommen? Gute Organisation ist alles, dachte er. Einige FDJ-Ordnungsgrüppler und Helfer der Volkspolizei waren auch dabei. In den Nebenstraßen mochten zwei oder drei Wasserwerfer mit laufendem Motor warten: Die Neue Kulturelle Offenheit fand unter Aufsicht statt.
    Dann ging es wirklich los, und wie. Der Gitarrist schrubbte seine Saiten, dass die Wände wackelten. Wie Kramer erst nach einiger Zeit erkennen konnte, hatte er auch noch einen Freund mitgebracht, der die rostige eiserne Treppe als Schlagzeug benutzte, und so wummerten und schepperten sich die beiden innerhalb weniger Minuten in einen Krachtaumel hinein, der kein Auge trocken ließ. Jedenfalls nicht bei Kramer. Die Menge um ihn herum nahm das Kulturangebot eher gelassen wahr, aber Kramer war schon bald kurz davor, sich die Ohren zuzuhalten und wegzulaufen.
    Andererseits, und das erstaunte ihn, gefiel ihm der Krach. Kramer war ein Mensch mit wenig ausgeprägtem Musikgeschmack. Malerei und Literatur waren ihm immer wichtiger gewesen, teilweise so wichtig, dass es seine Kollegen befremdete. Seine Plattensammlung war sehr bescheiden, und er behandelte sie stiefmütterlich. Er hatte bisher ganz gewiss wenig Kontakt zu einer Musik wie dieser gehabt, aber je länger der Exzess dauerte, desto besser gefiel er ihm. Die Musik war so laut, dass sie unmittelbar körperliche Auswirkungen hatte. Das schrille Gefiepe auf den letzten Gitarrenbünden kreischte in seinen Ohren wie eine Stahlfräse, die Bässe gingen ihm in den Magen, das Gedengel auf der Treppe mit Steinen, Eisenstangen und normalen Trommelschlegeln traf seinen Körper wie leichte Schläge. Weltuntergang für Fortgeschrittene, und zwar mit Gitarre und Eisentreppe in C-Dur: C wie Chaos.
    Chaos?

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