PolyPlay
gewisser Sebastian Verner wär stark fischig. Ich tät da mit mir mal hinfahren, wenn ich du wäre. Natürlich nur, falls du dich von deinen hochwichtigen Ermittlungen hier loseisen kannst.«
Kramer grinste.
Das Carl von Ossietzky-Gymnasium war eine Erweiterte Oberschule wie aus dem Bilderbuch. Jedenfalls von außen. Modern und alt geschickt vereint, geschmackvolle Sachlichkeit, alles wie aus dem Ei gepellt, mit Kieswegen im properen Schulpark. Ob der Laden Ossietzky gefallen hätte? Kramer wusste zu wenig über ihn.
Sie meldeten sich im Sekretariat an. Das Sekretariat war ein wenig ungehalten über nochmaligen Polizeibesuch, aber Kramer und Pasulke gingen auf die Ungehaltenheit nicht ein.
»Es ist die 11c«, sagte die ebenfalls geschmackvolle Sekretariatsleitung betont korrekt. »Pädagogischer Leiter der heutigen Unterrichtseinheit Politische Ökonomie ist Dr. Neff.«
»Pädagogischer Leiter?«, fragte Kramer Pasulke auf der Treppe zum dritten Stock. »Keine Lehrer mehr?«
»Sach ma, Rüdiger, manchmal muss ich mich schon sehr wundern. Der XIII. Parteitag der SED hat in aller wünschenswerten Klarheit festgestellt, dass die zügige Modernisierung unserer Bildungseinrichtungen –«
»Ach Scheiße, Jochen. Und deswegen heißen die Lehrer jetzt pädagogische Leiter?«
»Korrekt, Genosse Kramer.«
»Und wie heißen die Schüler jetzt?«
»Pädagogisch Leidende.«
»Blödmann.«
Klassenraum 251, 11c. Hinter der Tür quakte eine einsame Stimme vor sich hin. Klang wie ein Referat. Kramer klopfte an die Tür und öffnete sie, ohne auf eine Aufforderung zu warten. Er und Pasulke traten in die Blicke von schätzungsweise zwanzig Schülern und einem pädagogischen Leiter. Kramer hörte wie in Schultagen das seltsam bewegte und gespannte Schweigen der Klasse, wenn das Unerhörte geschah: ein Bruch in der Routine.
»Meine Damen und Herren, keine Aufregung«, sagte Kramer, »ich bin Oberleutnant Kramer von der Polizeiinspektion Friedrichshain, und das hier ist mein Kollege Leutnant Pasulke. Wir würden gerne an Ihrer heutigen Unterrichtseinheit teilnehmen. Genosse Pädagogischer Leiter, Sie haben doch nichts dagegen?«
Der pädagogische Leiter sah aus, als habe er ganz bestimmt etwas gegen die Polizeikarawane, die seit ein paar Tagen durch seine Schule und seinen Unterricht hindurchlatschte, aber er sagte nur resigniert: »Bitte.«
Als sich Kramer neben Pasulke auf einen der hinteren Plätze setzte, dachte er: Lehrer quälen, ganz offiziell. Mal was anderes. Thema war heute: Der Müller-Lohmann-Prozess und seine historische Rolle bei der Wiedervereinigung Deutschlands.
»Fahren Sie bitte … fahren Sie bitte fort, Herr Brinkmann«, sagte Dr. Neff mit einem unsicheren Seitenblick zu Kramer und Pasulke. Auch der Schüler Brinkmann schien sich seiner Sache nicht allzu sicher. Er zögerte leicht und verlas sich am Anfang oft.
»Die Systemkrise des westlichen Wirtschaftssystems hatte sich 1989 so verschärft, dass der endgültige Zusammenbruch unmittelbar bevorstand. Die BRD, die … die im Anschluss an die Weltwirtschaftskrise für zwei Jahre scharf sich verschlechternde ökonomische Indikatoren aufzuweisen gehabt hatte, litt zusätzlich unter der Last eines politischen Systems, das nicht einmal mehr den Anschein von einer Demokratie erwecken wollte und sich nicht von innen heraus erneuern konnte. Die politische Führung unseres Landes, die nach dem Tod des Staatsvorsitzenden, äh, Staatsratsvorsitzenden Honecker neu konstituiert worden war, erkannte in der revolutionären Technologie des Müller-Lohmann-Prozesses sofort die Chance, den unter dem Staatsratsvorsitzenden Honecker schon in Angriff genommenen Prozess der Modernisierung und Erneuerung der DDR …«
So ging es weiter, bla-bla-bla, und Kramer war nach zehn Minuten zu dem irgendwie auch beruhigenden Schluss gekommen, dass sich trotz der »zügigen Modernisierung unserer Bildungseinrichtungen« nichts geändert hatte: Die Schulen waren nach wie vor die Tempel der Redundanz, und auch diese Schüler mussten erdulden, was er einst erduldet hatte. Brinkmann spulte offensichtlich ab, was er abspulen sollte, die Langeweile war Programm, und dass über der ganzen Veranstaltung noch der Tod von Michael Abusch schwebte, das Bewusstsein, dass einer fehlte, trug nur zur allgemeinen Depression bei.
»Die Volksabstimmung vom 3.10.1991 war dafür nur ein Beispiel.«
Wofür? Kramer hatte nicht zugehört. Wie früher auch.
»Der Unmut der Bevölkerung der neuen DDR
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