Poor Economics
führt in den Augen der meisten Eltern über eine Anstellung im Staatsdienst (als Lehrer etwa) oder, wenn das nicht klappt, irgendeinen Bürojob. Auf Madagaskar wurden die Eltern von Kindern aus 640 Schulen gefragt, welchen Beruf ein Kind mit abgeschlossener Grundschule ihrer Meinung nach ausüben würde und welchen mit abgeschlossener Sekundarschule. 70 Prozent der Eltern glaubten, mit abgeschlossener Sekundarschule könnte ihr Kind einen Job im Staatsdienst bekommen. Tatsächlich trifft das auf 33 Prozent zu. 25
Nur sehr wenige dieser Kinder schaffen es bis zur 6. Klasse, geschweige denn dass sie die Abschlussprüfung der Sekundarschule machen, was derzeit die Minimalvoraussetzung für jeden Job darstellt, der eine gewisse Schulbildung erfordert. Eltern sind sich darüber durchaus im Klaren: Als man madagassische Eltern fragte, ob sich Bildung ihrer Meinung nach auszahlt, zeigte sich, dass sie im Durchschnitt nicht falsch lagen. Doch sie über- bzw. unterschätzen die Möglichkeiten maßlos. Bildung ist für sie wie ein Los in einer Lotterie, aber keine sichere Investition.
Pak Sudarno, ein Müllsammler im Slum Cica Das der indonesischen Stadt Bandung, der sich selbst als den »ärmsten Menschen im ganzen Viertel« bezeichnete, erklärte uns das ganz nüchtern. Als wir ihn im Juni 2008 trafen, stand sein jüngster Sohn (das jüngste von neun Kindern) gerade vor dem Wechsel auf eine Sekundarschule. Pak glaubte, der Junge würde nach Abschluss der Sekundarschule sehr wahrscheinlich einen Job im nahegelegenen Einkaufszentrum bekommen, wo sein Bruder bereits arbeitete. Diesen Job könnte er eigentlich schon jetzt haben, doch Pak dachte, es wäre vielleicht ganz gut, ihn die Sekundarschule besuchen zu lassen, selbst wenn das den Verzicht auf drei Jahre Lohn bedeutete. Seine Frau war der Meinung, der Junge könnte studieren. Das hielt Pak Sudarno für illusorisch, aber er sah eine gewisse Chance auf einen Bürojob, was wegen der Sicherheit und des Ansehens, die eine solche Tätigkeit verhieß, für ihn der bestmögliche Job war. Und das war in seinen Augen einen Versuch wert.
Nicht selten meinen Eltern auch, dass sich die ersten Schuljahre wesentlich weniger auszahlen als die späteren. Zum Beispiel glaubten die Eltern in Madagaskar, dass jedes Grundschuljahr das spätere Einkommen ihres Kindes um 6 Prozent erhöhen würde, während jedes Jahr in der Unterstufe der Sekundarschule 12 Prozent mehr brächte und jedes Jahr in der Oberstufe 20 Prozent. Ganz ähnliche Vorstellungen fanden wir auch in Marokko. Die Eltern dort glaubten, jedes Jahr Grundschulbildung erhöhe das spätere Einkommen eines Jungen um 5 Prozent und jedes Jahr Sekundarbildung
brächte 15 Prozent mehr. Bezogen auf Mädchen waren die Vorstellungen sogar noch extremer. Grundschulbildung besaß in den Augen der Eltern fast überhaupt keinen Wert: nämlich 0,4 Prozent. Aber mit jedem Jahr Sekundarbildung, so dachten sie, würde das Einkommen um 17 Prozent steigen.
Wie die verfügbaren Schätzungen zeigen, steigt das spätere Einkommen in Wirklichkeit mehr oder weniger proportional zu den absolvierten Schuljahren. 26 Außerdem scheint Bildung auch denjenigen zu nützen, die keine Beschäftigung im formellen Sektor finden: Beispielsweise verdienten Bauern, die zur Schule gegangen waren, während der Grünen Revolution mehr als die gänzlich ungebildeten. 27 Dazu kommen noch all die anderen, nicht finanziellen Vorteile. In anderen Worten: Die Eltern sehen eine S-förmige Kurve, wo in Wirklichkeit keine ist.
Dieser Glaube an die S-Kurve führt dazu, dass es Eltern sinnvoll erscheint, in puncto Bildung alles auf eine Karte zu setzen, nämlich auf das Kind, das sie für das begabteste halten (es sei denn, sie sind nicht bereit, ihre Kinder ungleich zu behandeln); die Investition wird nicht gleichmäßig auf alle Kinder verteilt, dadurch bekommt dieses eine Kind genügend Bildung. Im Dorf Naganadgi, wo wir die Witwe Shantarama getroffen hatten (von deren Kindern zwei nicht zur Schule gingen), lebte nur ein paar Häuser weiter eine Bauernfamilie mit sieben Kindern. Keines von diesen Kindern hatte länger als zwei Jahre die Schule besucht, mit Ausnahme des jüngsten, eines zwölfjährigen Jungen. Weil die Eltern mit der Qualität der staatlichen Highschool, die er ein Jahr besucht hatte, nicht zufrieden waren, schickten sie ihn nun in die 7. Klasse einer Privatschule im Dorf. Für ein Jahr Schulgeld muss die Familie 10 Prozent ihres gesamten Einkommens aus der
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