PopCo
vertreten müsste, welche Dinge er mit auf eine einsame Insel nehmen
würde, und er erzählt noch nicht einmal etwas über das Cyber-Heidentum, für das er sich angeblich so interessiert.
Läuft das heutzutage so? Lassen wir unsere Identitäten einfach von Filmemachern erschaffen, deren Erzeugnisse wir für neun
neunzig kaufen können? Ist das der Preis einer Identität? Oder stellt man sich damit nur die entscheidenden Einzelteile zusammen?
Ergeben ein Zombiefilm und ein experimenteller Film über einen Bankraub mitten in Paris einen anderen Menschen als zwei romantische
Hollywoodkomödien? Und würde einer dieser beiden Menschen mit jemandem auskommen, der sämtliche Staffeln seiner Lieblings-Science-Fiction-Serie
auf DVD hat und sie so nebeneinander ins Regal stellt, dass die Rücken ein komplettes Bild ergeben? Man könnte solche Details
zu den Strängen einer kulturellen DNA verdrillen, die sich ganz ohne Mikroskop erkennen lässt, bis jeder, der vor meinem Regal
steht, anhand aller bisherigen Informationen auf einen Blick sieht, wer «ich» bin und ob er mit mir ins Bett will. Kann man
denn heute nicht mehr einfach wegen schöner Brüste begehrt werden? Vielleicht passiert das ja auch nochmanchmal. Aber wenn die eigene kulturelle DNA nicht zu der des anderen passt, wird er wahrscheinlich einfach nur vögeln wollen
und am Morgen verschwinden, bevor man aufwacht, so, wie es einem schon alle vorausgesagt haben. Oder man geht selber, weil
der andere immer noch auf Country-Musik abfährt, die schon seit zwei Jahren wieder out ist, oder weil er
Titanic
auf DVD hat.
***
Die Zahlen aus dem Stevenson-Heath-Manuskript sind wie eine seltsame neue Tapete in meinem Zimmer. Man kann sie so lange anschauen,
bis einem ganz schwindlig wird, doch ohne das Schriftstück, das sie in Wörter verwandelt, bedeuten sie gar nichts. Ich habe
meinen Großvater schon so oft angebettelt, es mir zu verraten, aber er weigert sich. Und inzwischen mag er es auch gar nicht
mehr, wenn ich überhaupt davon anfange.
Ich habe jetzt eine neue Aufgabe für die Abende und für die Wochenenden: Ich muss die Wörter auf den einzelnen Seiten des
Voynich-Manuskripts zählen und die Ergebnisse in eine Tabelle schreiben, die mein Großvater sich dann anschaut. Der Winter
geht in Frühling über, erst blühen die Schneeglöckchen, dann die Osterglocken, und ich sitze Abend für Abend da und notiere
erst die Anzahl der Wörter und dann die Anzahl der Buchstaben für jede einzelne Seite dieses langen Manuskripts. Manchmal
muss ich eine Lupe dafür verwenden, dann stelle ich mir vor, dass ich eine Detektivin bin. Meistens ist es aber eine ausgesprochen
langweilige Arbeit, und ich wünsche mir oft, stattdessen ein Buch mit richtigen Wörtern zu lesen.
Am 1. April erklärt mein Großvater, er habe den Voynich-Text nun endlich entschlüsselt. Dann lacht er und ruft: «April, April!»
Noch viele Jahre später ist das ein Ritual zwischen uns:An jedem 1. April behauptet einer von uns, dem Geheimnis auf den Grund gekommen zu sein. Doch an diesem speziellen Tag geschieht noch
etwas anderes. Am 1. April 1984 erscheint das erste Buch meines Großvaters, eine Sammlung seiner
Kopfnuss -Rätselkolumnen
. Er hat dafür ein Honorar bekommen, dessen Höhe er uns nicht verraten will. «Es reicht nicht ganz für einen Swimmingpool»
– mehr sagt er nicht dazu. Am 2. April bekommen wir eine neue Alarmanlage. Meine Großmutter protestiert.
«Wir können doch nicht in einer Festung leben», sagt sie. «Das ist ungesund.»
Aber sie kann sich nicht durchsetzen. In Cambridge wissen einfach zu viele Leute, dass wir eine Schatzkarte im Haus haben.
Daran ist mein Vater schuld. Und seit der Episode an der Bushaltestelle plagt meinen Großvater die Befürchtung, dass jemand
versuchen könnte, deswegen bei uns einzubrechen. Da kann ich den Einbrechern nur viel Erfolg wünschen. Ich wohne schließlich
hier und weiß trotzdem nicht, wo die Karte ist. Dabei besitze ich sogar den wichtigsten Hinweis überhaupt: mein Medaillon
mit den seltsamen Ziffern, die gar keinen Sinn für mich ergeben. Vielleicht bin sogar ich mit meiner Halskette die Schatzkarte
– oder zumindest der Beweis dafür, dass mein Großvater weiß, wo der Schatz ist, was letztlich auf dasselbe hinausläuft. Dann
bin ich also die Schatzkarte und weiß trotzdem nicht, wo der Schatz ist. Wie soll das dann ein Einbrecher herausfinden? Aber
ich spare mir
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