PopCo
Schmatz- und Knutschgeräusche. Und die anderen Mädchen fragen einen
ganz direkt und mit abfälliger Miene, wieso man denn mit einem Jungen redet. Wenn man Jungs anspricht, fällt man viel zu sehr
auf. Und wer will in der Schule schon auffallen? Aus demselben Grund wird es nicht gern gesehen, wenn man sich im Unterricht
meldet, um eine Frage zu beantworten, oder wenn man richtig gut in Sport ist. Angeber kann eben keiner leiden.
Wenn man doch mal etwas Auffälliges tun will, hilft es, in einer Clique zu sein. Eine Clique gleicht alles wieder aus. Was
Emma gerade in Mathe gesagt hat, konnte sie sich nur erlauben, weil ihre gesamte Clique dabei war und ihr den Rücken gestärkt
hat. Wenn man in einer Clique ist, kann man sich in einem gewissen Rahmen so ziemlich alles leisten. Man muss nur aufpassen,
dass man nicht aus der Clique fliegt, weil man «komisch» ist (und beispielsweise die Haare anders trägt als die anderen Mädchen),
eine «Tussi» . (weil man mit Jungs redet) oder ein «Asi» . (weil man alte oder irgendwie geflickte Klamotten anhat). Wenn man mit einem Jungen reden will und in einer Clique ist, schickt
man ein anderes Mädchen aus der Clique vor. Niemals, unter gar keinen Umständen, fragt man den Jungen selbst, ob er mit einem
gehen will. Und auch wenn die Mission der Freundin erfolgreich war und man also mit dem Jungen geht, heißt das noch lange
nicht, dass man auch mit ihm reden darf. Das wird mir so schnell sowieso nicht passieren, aber ich finde es trotz allem sehr
verwirrend.
Die Clique heißt auch eigentlich nicht «Clique». Wenn man eine Clique hat, sind das die Mädchen, mit denen man «rumhängt».
Ich kann gar nicht fassen, dass Emma mich eingeladen hat, in ihre Clique zu kommen. Gilt das jetzt nur für heute oder für
immer? Dabei habe ich doch den falschen Rock. Und keine Ohrlöcher. Außerdem haben wir keinen Fernseher zu Hause (das würden
die anderen hier in der Schule so komisch und asi-mäßig finden, dass es schon jetzt mein allergrößtes Geheimnis ist). Und
Lipgloss habe ich auch keins. Als könnte sie meine Gedanken lesen, zieht Emma ein Döschen davon aus der Tasche.
«Willst du auch mal?», fragt sie.
Ob das ein Trick ist? Am Montag habe ich beobachtet, wie Kali, ein Mädchen aus meiner Klasse, einem anderen Mädchen, Liz,
den Rest von ihrem Pausenbrot angeboten hat. «Willst duwas abhaben?», hat sie ganz lieb gefragt, aber als Liz dann die Hand ausstreckte, um sich das Brot zu nehmen, zog Kali die
Butterbrotdose weg, und sie und ihre Freundinnen lachten und taten ganz angeekelt. «So ein asiger Vielfraß», rief Kali, und
seitdem sagen alle nur noch «asiger Vielfraß» zu Liz. Dass sie dick ist, macht die Sache auch nicht besser. Auf solche Tricks
darf man nicht hereinfallen. Hier mit Emma kann mir zwar nicht viel passieren, weil sonst keiner dabei ist, trotzdem muss
ich auf der Hut sein. Ist man ein «Asi» oder «eklig», wenn man das Lipgloss eines anderen Mädchens benutzt? Aber wenn ich
ablehne, bin ich vielleicht eine «eingebildete Kuh».
Schließlich sage ich: «Ehrlich?»
Und sie lächelt und sagt: «Klar. Ist mit Traubengeschmack.»
«Danke», sage ich und nehme ihr das kleine lila Döschen aus der Hand. Ich tunke den Finger hinein, nehme ein bisschen und
verreibe es auf den Lippen. Jetzt verstehe ich, warum alle so verrückt nach Lipgloss sind. Der schmeckt und riecht ja wirklich
nach Trauben! Und meine Lippen fühlen sich auch gleich viel weicher an. Wenn ich in dieser Clique sein will, muss ich mir
eigenes Lipgloss kaufen. Aber wie soll ich das machen? Wo kauft man überhaupt Lipgloss? Und Geld habe ich auch keines. Ob
ich meine Großeltern bitten kann, mir Geld für Lipgloss zu geben? Unwahrscheinlich. Ich könnte ihnen kaum verständlich machen,
wozu ich das brauche, und wahrscheinlich würden sie nur sagen: «Also wirklich, Alice, was für ein merkwürdiger Wunsch. Solche
Dinge sind doch völlig unnötig.»
Langsam wird mir klar, dass man als Kind mit folgendem Paradoxon leben muss: In der Schule ist einem alles furchtbar peinlich,
was man zu Hause macht. Aber die seltsamen Regeln und Zwänge der Schulfreunde sind zu Hause mindestens genauso peinlich. Ist
es möglich, dass ich diese Hölle jetzt sieben Jahre lang aushalten muss? Trotzdem will ich imMoment nichts lieber, als mit Emma und ihren Freundinnen rumhängen. Ich werde schon irgendwie an Lipgloss und einen Faltenrock
Weitere Kostenlose Bücher