PopCo
wollte mich auf den Mund küssen, aber ich habe den
Kopf weggedreht. Ich habe eine Plastiktüte mit einerAnti-Schuluniform dabei, die ich mit erschwindeltem Essensgeld bezahlt habe, und ein geklautes Lipgloss in der Tasche. Ich
bin eine Lügnerin und eine Diebin.
Als ich von der Bushaltestelle in unserem Dorf nach Hause laufe, komme ich an Rachels Haus vorbei und wünsche mir, sie wäre
hier. Ich nehme mir vor, ihr noch heute Abend einen Brief zu schreiben. Was ist nur aus mir geworden? Ganz egal: Ich stecke
bereits zu tief drin, um noch einen Rückzieher zu machen. Ich werde meinen Großeltern nicht zeigen, wie sehr mich das alles
verstört. Ich werde das Lipgloss und die neuen Schulkleider vor ihnen verstecken. Und weinen werde ich erst, wenn ich allein
bin und mich keiner sieht. Ich denke an Aarons Kuss und wünsche mir, es wäre Alex gewesen. Wäre ich doch bloß in den Schachclub
gegangen!
Vor unserem Haus steht ein Auto, das ich noch nie gesehen habe. Die Polizei? Mit hämmerndem Herzen gehe ich zur Hintertür
und trete ins Haus. Ich fühle mich schlecht dabei, über diese Schwelle zu treten, als wäre die Alice, die eigentlich hier
wohnt, durch meine Hand gestorben. Das macht mich zur Schwindlerin, und ich will nicht, dass das jemand erfährt. Am liebsten
würde ich mich tausend Jahre lang verstecken.
«Na, da kommt ja die verlorene Tochter», ruft mein Großvater, als ich hereinkomme. Er klingt gut gelaunt. Vielleicht ist der
Besuch ja doch nicht von der Polizei? Die Frau, die da mit meinem Großvater am Küchentisch sitzt und ein Glas Wein trinkt,
sieht eigentlich auch gar nicht aus wie eine Polizistin.
«Hallo», begrüßt sie mich. «Du musst Alice sein.»
Sie ist wohl ungefähr so alt sein wie meine Großeltern, wirkt aber viel glamouröser. Sie trägt einen schwarzen Kaftan und
einen scharlachroten Seidenschal. Ihre Lippen sind im selben Farbton geschminkt und glänzen wie aufgeschnittene Rote Bete.
«Hallo», sage ich schüchtern. Dann fällt mir wieder ein, dass ich ja eine Schwindlerin bin und nicht zu viel sagen darf, damit
man mir nicht auf die Schliche kommt. In Emmas Kleidern sehe ich wahrscheinlich auch noch aus wie eine Schwindlerin. Während
ich das denke, schaut mein Großvater wieder zu mir hin und mustert mich von Kopf bis Fuß.
«Ist das der Wein oder siehst du irgendwie ganz anders aus?», fragt er.
«Ich habe mir was von Emma geliehen», murmele ich, gehe aus der Küche und flüchte die Treppe hoch in mein Zimmer. Von unten
folgt mir Gelächter. Ich lege die Einkaufstüte, die ihm zum Glück nicht aufgefallen ist, auf mein Bett, ziehe mein Lipgloss
aus der Tasche und trage etwas davon auf. Es fühlt sich aber völlig verkehrt an. Ich wische es mit dem Handrücken wieder ab,
stecke das Döschen in mein Federmäppchen und überlege, ob ich nicht lieber Hausaufgaben machen soll. Halbherzig krame ich
ein paar Bücher und Hefte hervor, kann mich aber nicht darauf konzentrieren, weil sich mein ganzes Dasein gerade wie eine
offene Wunde anfühlt. So verbringe ich die nächste Stunde stattdessen auf meinem Bett, höre Radio und versuche mir einzureden,
dass Aaron mir gefällt. Dann klopft es an meine Zimmertür. Die Polizei! Aber es ist nur meine Großmutter.
«Ich glaube, das Abendessen ist bald fertig», sagt sie zu mir. «Hattest du es schön mit deiner Freundin?» Ich versetze mich
in den Kopf meiner Großmutter und male mir aus, wie zwei Elfjährige in ihrer Vorstellung einen Samstag miteinander verbringen.
Ich sehe zwei Mädchen vor mir, die Ludo spielen, sich gegenseitig bei den Hausaufgaben helfen und sich über das Leben, ihre
Eltern, ihre Träume und Pläne unterhalten. Meine Großmutter würde niemals verstehen, was ich heute gemacht habe.
«Ja, danke», sage ich.
«Jasmine bleibt zum Abendessen. Hast du sie schon kennengelernt? Sie ist eine alte Freundin von uns. Eine hochinteressante
Frau.»
«Ja», sage ich. «Ich habe sie eben kennengelernt.»
«Alice?», fragt meine Großmutter. «Ist alles in Ordnung mit dir?»
Ich fahre sofort aus der Haut. «Ja, natürlich. Wieso?»
«Einfach so. Wir sehen uns dann gleich unten, ja?»
«Okay.»
Jasmine kommt mir vor wie eine sehr viel erwachsenere Roxy. Wie sich herausstellt, war sie auf Reisen, was auch der Grund
ist, dass meine Großeltern sie so lange nicht gesehen haben. Sie war in Indien, in Afrika und sogar in China! Weil niemand
so recht weiß, was in China
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