PopCo
uns irgendwie abhanden gekommen und
würde sich wohl sowieso nicht zum Schwänzen überreden lassen. Aber ich für meinen Teil kann mir jetzt unmöglich eine Stunde
oder länger diesen Mann ansehen und dabei seine Hände an meinen Schenkeln spüren, und Esther ist viel zu fertig, um in einem
großen Saal stillzusitzen. Sie sieht aus wie eine Katze, die unbedingt draußen pinkeln will, am allerliebsten im Nachbargarten.
«Ich glaube, ich hab’s echt übertrieben», sagt sie, als wir uns in das Waldstück hinter dem Parkplatz verdrücken. «Zu viel
Rennerei.»
Esther gefällt mir richtig gut, und ich frage mich, warum ich sie in Battersea bisher nie gesehen habe. Hätten wir uns gekannt,
hätte ich sie garantiert nicht wieder vergessen. Siehat etwas Phosphorhaftes, scheint die ganze Zeit zu sprudeln. Vielleicht wären wir ja Freundinnen geworden, wenn ich sie in
Battersea bemerkt hätte. Auf jeden Fall ist sie ganz anders als die Leute, mit denen ich sonst arbeite. Seit wir uns umgezogen
haben, trägt sie einen kurzen, grünen Schottenrock, ein T-Shirt mit einem Totenkopf, eine alte Strickjacke und rote, abgewetzte Turnschuhe. Sie wäre sicher nicht auf einer Wellenlänge mit
meinen hippen Arbeitskollegen. Ich trage einen knielangen Cordrock, meine Leinenturnschuhe und dazu einen dicken Pulli.
Eliteschulen-Look, was, Alice?
Aber es ist ja kein Mensch da, den das interessieren könnte.
«Was genau machst du eigentlich in Battersea?», frage ich Esther.
«Ach, ich hänge da nur so rum.»
«Nein, ich meine, ob du in der Gestaltung bist oder was du sonst machst?»
Wir sind jetzt mitten im Wald. Es ist dunkel und riecht nach Feuchtigkeit. Ich bin froh, dass ich meinen Pulli angezogen habe:
Es ist so ein Tag, an dem man eigentlich nur warm bleibt, wenn man sich bewegt oder direkt in die Sonne stellt. Wir folgen
dem Weg zwischen den Bäumen hindurch und hören dabei alle möglichen Geräusche: einsame Vögel, durchnässte Insekten – ein kurzes
Flattern, ein ständiges Summen. Der Weg, auf dem wir sind, ist ziemlich breit, der Boden unter unseren Füßen rötlich und trocken.
Beim Gehen merke ich, wie weich er sich anfühlt, und amüsiere mich kurz mit dem Gedanken, dass unter diesem Weg vielleicht
alles hohl ist. Aber das kann natürlich nicht sein. Vermutlich hat es einfach etwas mit der Dichte zu tun, dass dieser Boden
mir ein wenig wie Ton vorkommt, wie ein altes Keramikgefäß.
«Hier sind bestimmt schon Leute gestorben», sagt Esther und zieht dabei die Nase kraus. Anscheinend will sie mir nicht erzählen,
was sie in Battersea macht. Und ich sollte sie wohlauch nicht drängen. Ich verstehe zwar nicht, warum sie so ein Geheimnis daraus macht, aber bitte – von mir aus.
«Früher war das mal ein Internat hier», sage ich. «Da sind sicher massenhaft gruselige Dinge passiert.» Ich muss wieder an
mein Gespräch mit Mac denken und an die Geräusche aus dem Kids-Labor. «Ich frage mich, wo die ganzen Kinder hin sind», sage
ich unvermittelt.
«Die aus dem Internat?»
«Nein. Entschuldige … zwei parallele Gedankengänge. Heute Morgen waren hier Kinder auf dem Sportplatz. Ich hatte mich einfach gefragt, wo die
jetzt alle hin sind.»
«Du scheinst dich hier ja richtig gut auszukennen», sagt Esther.
«Ich war einfach ein bisschen zu früh hier.»
Ich werde ihr nichts von Mac und meiner nächtlichen Reise erzählen. Nun haben wir also beide ein Geheimnis.
Mitten im Wald befindet sich ein kleiner Pavillon: Er wirkt alt, die Farbe blättert von den Wänden, die Türangeln sind verrostet.
Wir stürzen voller Begeisterung darauf zu und versuchen, die Tür aufzukriegen. Nach ein paar vergeblichen Versuchen öffnet
sie sich mit kläglichem Quietschen, und wir schleichen uns hinein wie vorwitzige Schulkinder, die eine verborgene Höhle entdeckt
haben. Drinnen finden wir altes, vertrocknetes Laub und ein Podest, auf dem man sitzen kann. Die Fensterrahmen sind grünlich
vor Schimmel, hinter den verschmierten Scheiben kann man die Bäume nur erahnen. Wir setzen uns auf das Podest, und Esther
macht sich daran, einen Joint zu drehen.
«Schöne Scheiße», sagt sie.
«Was denn?»
«Ach, nichts.» Sie seufzt. «Wieso bist du eigentlich nicht bei Georges’ Rede?»
«Weil ich hier bin?», antworte ich probeweise.
«Ach, hör schon auf. Sag mir den wahren Grund.»
«Den wahren Grund?» Jetzt seufze ich. «Äh … Kann ich dir das vielleicht ein andermal
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