PopCo
schneller und schneller in den Wind hinein, sie fordern einander
heraus, treten in einen ungewissen Wettstreit miteinander. Seinen Namen verrät er ihr nicht, und irgendwann verschwindet er
einfach hinter dem nächsten Hügel und ruft etwas, das sich anhört wie: «Bis morgen …» Doch am nächsten Tag kommt er nicht. Da macht sie sich auf die Suche nach ihm, weil sie ihn wenigstens nach seinem Namen
fragen will.
Mein Abendessen ist beendet, und ich rauche eine Zigarette.Eigentlich ist das ein ganz spannendes Buch. Wird sie den Jungen wiederfinden? Wer mag er sein? Am liebsten würde ich es heute
noch zu Ende lesen, aber das kommt mir dann doch zu gierig vor und auch ein bisschen albern. Wie spät es wohl ist? Neun, zehn?
Vielleicht sollte ich noch einmal versuchen, Esther zu finden. Oder ich bleibe einfach hier und lese doch weiter, rauche und
nehme noch ein bisschen Baldrian. Natürlich gäbe es auch die Alternative, etwas zu arbeiten, nachdem ich mich langsam der
wachsten und effizientesten Zeit des Tages nähere. Nicht, dass ich mich gerade sonderlich wach und effizient fühlen würde.
Ein Windstoß rüttelt am Fenster, und ich höre draußen ein merkwürdiges Pfeifen. Ob es ein Unwetter geben wird? Vielleicht
sollte ich lieber jetzt ein bisschen spazieren gehen anstatt später. Selbst wenn ich Esther nicht finde, kann ich einen Tee
mit Dan trinken. Danach bleibt mir immer noch genügend Zeit, etwas getan zu kriegen. Ich putze mir die Zähne und trage etwas
Lippenpflegestift auf, dann gehe ich nach draußen und ziehe meine Strickjacke fester um den Körper, um mich vor dem Wind zu
schützen. Als ich den Säulengang zum Westflügel durchquere, glaube ich erneut, Schritte hinter mir zu hören. Das irritiert
mich so, dass ich fast in Ben hineinrenne, der offenbar in die Gegenrichtung will, zum Ostflügel. Es hat angefangen zu regnen.
«Hier bist du also», sagt er. Seine brunnenschachttiefe Stimme klingt weich und verunsichert.
Und meine Augen bringen etwas fertig, das vermutlich den Einsatz einer guten Milliarde Nervenzellen erfordert.
Du hast mich gesucht?
, fragen sie. Und setzen dann ganz raffiniert hinzu:
Wenn das so ist, dann komm doch mit mir durch diesen Torbogen. Falls du dich traust
. Seine Augen antworten mit einer Art Fragezeichen, doch er tut es: Er tritt mit mir durch den Torbogen. Wir gehen langsam
durch den Regen, außen um das Haupthaus herum bis zu den Stufen, die zur Wiese hinunterführen. Vermutlichsehen wir aus wie zwei alte Säufer: Ben ist mir so nahe, dass wir beide schwanken und beim Gehen immer wieder zusammenstoßen.
Irgendwann lege ich den Finger an die Lippen und mache
Psst
!, aber das ist gar nicht nötig. Keiner von uns sagt ein Wort. Ben sieht im fast völlig geschwundenen Licht aus wie ein ernster
Geist, und wenn man sein nasses, schwarzes Haar und die regenbesprenkelten Brillengläser betrachtet, könnte man meinen, dieser
Geist müsse zu Lebzeiten ein südeuropäischer Intellektueller gewesen sein, vielleicht aus der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen.
Trotz meiner abendlichen Entspannungsorgie benimmt sich mein Herz jetzt wie ein Stepptänzer auf Speed, und auch meine Beine
fühlen sich anders an als sonst, fast wie ein Nixenschwanz. Einen Moment lang bin ich eine Meerjungfrau. Wurde ich vom Gewitter
an Land gespült, um ihn zu verführen? Oder hat der Sturm ihn zu mir gebracht? Ich muss wieder an unseren gemeinsamen Moment
beim Heißluftballonspiel denken, und zum ersten Mal in meinem Leben bin ich froh, es gespielt zu haben.
Wollte ich ihn zu dem Pavillon führen? Mag sein. Doch so lange können wir dann beide nicht warten. Kaum sind wir im Wald und
außer Sichtweite des Hauses, biegen wir nach links ab, sehen uns ein letztes Mal um, um ganz sicherzugehen, dass wir allein
sind, und dann küssen wir uns so intensiv und heftig, wie wir können. Wir küssen uns, als hätten wir keinen Namen, keine Anschrift,
keine Verpflichtungen, Telefonnummern, Freunde, Feinde oder sonst irgendetwas auf der Welt. Bens Arme sind erstaunlich kräftig,
als er mich gegen einen Baum presst. «Sag nichts», flüstere ich, und er sagt auch nichts, kein Wort, sondern schiebt bloß
meinen Rock hoch, zieht ein Kondom aus der Tasche und knöpft sich die Hose auf.
Als ich wieder in meinem Zimmer bin, ziehe ich die nassen Sachen aus und hülle mich in einen weißen PopCo-Bademantel.Wie wunder-wundervoll. Heute werde ich ganz sicher nicht mehr
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