Populaermusik Aus Vittula
gefüttert werden sollten, und anderes, was er in Groschenromanen gelesen hatte. Wenn der Junge anfing zu heulen, hatte es geklappt. Weiter ging man selten. Sonst könnten sich die anderen mit noch schlimmeren Dingen rächen, wenn man selbst geschnappt wurde.
Einmal wurde der Anführer des Gegners gefangen genommen. Wir fesselten ihm seine Hände über dem Kopf und warfen das Seilende über einen dicken Ast. Dann zogen wir das Seil so stramm, dass er auf Zehenspitzen stehen musste, und ließen ihn zurück, seinen eigenen dreckigen Strumpf in den Mund gestopft. Es war wohl geplant, dass er sich nach einer Weile selbst befreien sollte. Aber das schaffte er nicht. Als es Abend wurde, wunderte sich seine Mutter, wo er denn blieb. Nach einigen Telefongesprächen zählten seine Kumpel eins und eins zusammen. Es wurde schon langsam dunkel. Unsere Bande wurde befragt, sie gab eine Wegbeschreibung, und bald war eine Hand voll Jungs mit Taschenlampen auf dem Weg.
Das Problem war, den Platz wiederzufinden. In der zunehmenden Herbstdunkelheit war es schwer, sich zurechtzufinden, und außerdem konnte der Junge wegen des Strumpfs ja nicht schreien. Alle Bäume sahen gleich aus, die Pfade verschwanden, und die Konturen wurden unklar. Es fing an zu wehen, und das Rascheln und Sausen ertränkte jedes andere Geräusch. Dann fing es auch noch an zu regnen.
Man fand den Anführer ein paar Stunden später. Die Hose vollgepisst. Als man das Seil löste, fiel er zu Boden. Das Erste, was er sagte, als der Strumpf rausgezogen worden war, war ein Todesurteil gegenüber einer Anzahl namentlich genannter Jungs.
In den folgenden Tagen wurde eine vorübergehende Waffenruhe eingehalten, um die Gefühle zu beruhigen. Dann geriet ich selbst in einen raffinierten Hinterhalt. Wie eine Antilope wurde ich von der Herde getrennt und bekam in den Hintern gefeuert, bis ich das Gewehr wegschmiss und schrie, dass ich mich ergebe. Verdammt, wie weh das tat! Dunkellila Flecken über den ganzen Schenkel. Trotzdem weigerte ich mich zu heulen, während die Jungs sich darum stritten, wer von ihnen die Stange Zigaretten kriegen sollte. Ihr Anführer drückte mich zu Boden und sagte, dass ich jetzt das Gleiche erleben sollte wie er. Grinsend warf er ein Seil über einen kräftigen Kiefernast. Dann zog er mir einen Strumpf aus und pisste auf ihn, bis er vollkommen durchtränkt war. Ich hatte einen ganz trockenen Hals, mir war schwindlig vor Angst. Versuchte mich auf die Folter vorzubereiten. Was sie sich auch für mich ausdenken mochten, ich durfte nicht anfangen zu heulen. Musste dem widerstehen, musste hart bleiben, wie weh es auch tun mochte. Verdammt, das müsste doch wohl zu schaffen sein!
In dem Moment war in der Ferne Lärm zu hören. Eine der Wachen schrie, sie würden angegriffen. Der Führer zögerte, er hörte, wie sich der Kampfeslärm näherte.
»Lauf!«, befahl er und bedrohte mich mit dem Gewehr. Alle anderen taten es ihm gleich. Ich hielt den Atem vor Schmerzen an und stürzte davon. Ich rannte davon, warf mich von einer Seite zur anderen. Die Schüsse donnerten in meinen Körper, brannten wie Brandwunden.
»Daneben, daneben!«, grölte ich, mit Tränen im Hals, und schaute voller Angst nach hinten.
In dem Moment schoss der Anführer. Ich fiel. Fiel der Länge nach hin, landete auf dem Rücken im Moos. Als ich danach versuchte, die Augen zu öffnen, entdeckte ich, dass ich blind war.
»Aufhören zu schießen!«, schrie jemand.
Der Angriff wurde abgebrochen. Schritte näherten sich. Mein Schädel dröhnte wie eine Trommel. Schmerzen, Dunkelheit. Ich befühlte mein Gesicht. Warm und feucht.
»Scheiße!«, stieß jemand hervor. »Holt Wasser!«
Immer mehr versammelten sich um mich, ich hörte, wie sie vom Laufen keuchten.
»Ich bin blind«, sagte ich und hätte am liebsten gekotzt.
»Das ist ins Auge gegangen! O Scheiße, überall Blut!«
Ein klitschnasses Stück Stoff wurde gereicht, ich versuchte mich damit abzuwischen. Setzte mich auf und spürte, wie das Blut tropfte. Wischte wieder ab. Tastete vorsichtig.
Voller Panik klimperte ich mit den Augenlidern, aber alles war nur ein Nebel. Ich rieb stärker. Die Sehschärfe wurde eine Spur besser. Ich wischte das Tuch übers Gesicht, dass das Wasser spritzte und tropfte. Blinzelte. Hielt mir ein Auge zu. Dann das andere. Welche Erleichterung, ich konnte sehen! Gleichzeitig fühlte ich eine Erhebung unter der Haut.
Die Kugel hatte genau zwischen den Augen getroffen. Es war das Blut gewesen,
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