Portrat in Sepia
seien, auch wenn die Familie sie
deshalb ausstoßen würde. Sie hatte das Glück gehabt, auf eine
einzigartige Lehrerin zu treffen, Schwester Maria Escapulario,
eine Nonne mit einem Löwenherzen unter dem Habit, die
Niveas Intelligenz bemerkt hatte. Dieses Mädchens wegen, das
alles begierig in sich aufsog, das Dinge in
Frage stellte, nach denen nicht einmal sie selber sich je
gefragt hatte, das sie zu ungewöhnlichen Gedankengängen
herausforderte und das in der gräßlichen Schuluniform schier
strotzte vor Lebenskraft und Gesundheit
- dieses Mädchens
wegen fühlte sie sich als Lehrerin für vieles andere entschädigt.
Nivea allein war die Mühe wert, mit der sie jahrelang eine
Menge reicher Mädchen mit armem Verstand unterrichtet hatte.
Aus zärtlicher Zuneigung zu ihr verletzte Schwester Maria
Escapulario systematisch die Schulordnung, die geschaffen
worden war, um die Schülerinnen zu gehorsamen weiblichen
Wesen zu erziehen. Sie führte mit Nivea Gespräche, die die
Oberin und den Beichtvater der Schule entsetzt hätten. »Als ich
so alt war wie du, gab es nur zwei Möglichkeiten: heiraten oder
ins Kloster gehen«, sagte Schwester Maria Escapulario.
»Und warum haben Sie die zweite gewählt, Schwester
Maria?«
»Weil sie mir mehr Freiheit verhieß. Christus ist ein
duldsamer Bräutigam…«
»Wir Frauen sind arm dran, Kinder kriegen und gehorchen,
und damit Schluß«, seufzte Nivea. »So muß es nicht sein. Du
kannst die Dinge ändern«, erwiderte die Nonne. »Ich alleine?«
»Nicht alleine, da sind noch mehr Mädchen wie du, die ein
bißchen Grips im Köpfchen haben. Ich habe in einer Zeitung
gelesen, daß es schon ein paar Frauen gibt, die Ärzte geworden
sind, stell dir das vor!«
»Wo?«
»In England.«
»Das ist weit von hier.«
»Gewiß, aber wenn sie das dort machen können, dann wird
man das eines Tages auch in Chile schaffen. Verlier nur nicht
den Mut, Nivea.«
»Mein Beichtvater sagt, ich denke zuviel und bete zuwenig,
Schwester Maria.«
»Gott hat dir dein Gehirn gegeben, damit du es benutzt; aber
ich sage dir gleich, der Weg der Rebellion ist mit Gefahren und
Schmerzen übersät, man braucht viel Mut, um ihn zu gehen. Da
sollte es dir nicht zuviel werden, die göttliche Vorsehung zu
bitten, daß sie dir ein bißchen hilft«, riet ihr Schwester Maria
Escapulario.
So fest entschlossen zur Rebellion war Nivea schließlich, daß
sie in ihr Tagebuch schrieb, sie werde auf die Ehe verzichten,
um sich ganz dem Kampf für das Frauenwahlrecht zu widmen.
Dabei übersah sie, daß ein solches Opfer nicht nötig sein würde,
denn sie würde ja einen Mann heiraten, der sie in ihren
politischen Zielen unterstützte.
Severo bestieg das Schiff mit beleidigter Miene, damit seine
Verwandten nicht ahnten, wie froh er war, aus Chile
fortzukommen - sie hätten am Ende noch ihre Meinung geändert
-, und war gewillt, den größtmöglichen Vorteil aus diesem
Abenteuer zu ziehen. Von Cousine Nivea hatte er sich mit einem
geraubten Kuß verabschiedet, nachdem er ihr geschworen hatte,
daß er ihr interessante Bücher schicken werde, natürlich durch
einen Freund, um die Zensur der Familie zu umgehen, und daß
er ihr jede Woche schreiben werde. Sie hatte sich mit einer
Trennung von einem Jahr abgefunden, ohne zu ahnen, daß seine
Pläne dahin gingen, die längstmögliche Zeit in den Vereinigten
Staaten zu bleiben. Severo wollte den Abschied nicht dadurch
bitterer machen, daß er ihr diese Absichten offenbarte - er würde
es Nivea schon schriftlich erklären, entschied er. Ohnedies
waren beide noch zu jung zum Heiraten. Er sah sie, umgeben
vom Rest der Familie, am Kai von Valparaiso stehen in ihrem
olivfarbenen Kleid und passenden Barett, wie sie ihm mit der
Hand Lebewohl winkte und mühsam lächelte. »Sie weint nicht
und sie klagt nicht, deshalb liebe ich sie und werde sie immer
lieben«, sagte Severo laut gegen den Wind und war fest
entschlossen, die launischen Gelüste seines Herzens und die
Versuchungen der Welt mit äußerster Hartnäckigkeit zu
besiegen. »Heilige Jungfrau, gib ihn mir heil und gesund wieder
zurück!« flehte Nivea und biß sich die Lippen wund, von der
Liebe überwältigt und ohne sich auch nur entfernt daran zu
erinnern, daß sie geschworen hatte, ledig zu bleiben, bis sie ihre
Pflicht als Frauenrechtlerin erfüllt hätte.
Von Valparaiso bis Panama drehte und wendete der junge del
Valle Großvater Agustins Brief um und um in dem
verzweifelten
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