Portrat in Sepia
gelegentlichen
Stimmungsschwankungen zurück. Diesmal griffen seine Onkel
ein. Sie versammelten sich zur Beratung in dem schmucklos
strengen Speisesaal im Haus Großvater Agustins, und zwar in
Abwesenheit des Jungen und seiner Mutter, die am
Patriarchentisch keine Stimme hatten. In ebendiesem Raum
hatte vor fünfunddreißig Jahren Paulina del Valle, ein
Diamantdiadem auf dem geschorenen Kopf, den Männern ihrer
Familie getrotzt und Feliciano Rodriguez de Santa Cruz
geheiratet, den Mann, den sie selbst gewählt hatte. Hier wurden
jetzt vor dem Großvater die Beweise gegen Severo vorgebracht:
Er weigerte sich, zur Beichte zu gehen und das Abendmahl zu
empfangen, er trieb sich mit Bohemiens herum, in seinem Besitz
waren Bücher entdeckt worden, die auf der Schwarzen Liste
standen - kurz und gut, sie hatten den Verdacht, daß er sich von
den Freimaurern oder, schlimmer noch, von den Liberalen hatte
anwerben lassen. Chile durchlebte gerade eine Periode
unversöhnlicher ideologischer Kämpfe, und je mehr
Regierungsposten die Liberalen gewannen, um so mehr wuchs
die Wut der von messianischer Inbrunst durchdrungenen
Ultrakonservativen wie die del Valles, die ihre Vorstellungen
mit Hilfe von Bannflüchen und Gewehrkugeln verankern,
Freimaurer und Antiklerikale erledigen und alle Liberalen ein
für allemal in den Boden stampfen wollten. Die del Valles
waren nicht bereit, einen Dissidenten ihres eigenen Blutes im
Schoß der Familie zu dulden. Der Einfall, ihn in die Vereinigten
Staaten zu schicken, kam von Großvater Agustin: »Die Yankees
werden ihm die Lust am Krawallmachen schon austreiben«,
prophezeite er. Ohne nach Severos Meinung zu fragen, setzten
sie ihn aufs Schiff, und so fuhr er nach Kalifornien in seiner
Trauerkleidung, die goldene Uhr seines verstorbenen Vaters in
der Jackentasche, mit spärlichem Gepäck, das einen großen
dornengekrönten Christus einschloß, und einem versiegelten
Brief an Tante Paulina und Onkel Feliciano.
Severos Proteste waren rein formaler Art, denn diese Reise
stimmte haargenau mit seinen eigenen Plänen überein. Ihm fiel
es nur schwer, sich von Nivea zu trennen, dem Mädchen, das er,
wie alle erwarteten, eines Tages heiraten würde gemäß dem
alten Brauch der chilenischen Oberschicht, Vetternehen zu
schließen. In Chile erstickte er. Er war aufgewachsen in einem
Dickicht von Dogmen und Vorurteilen, aber die Berührung mit
anderen jungen Leuten in dem Internat in Santiago hatte seine
Vorstellungskraft aufgeschlossen und einen Strahl Patriotismus
in ihm geweckt.
Bislang hatte er geglaubt, es gebe nur zwei soziale Klassen,
die seine und die der Armen, getrennt durch eine unscharfe
Grauzone aus Beamten und anderen »kleinen Chilenen vom
großen Haufen«, wie Großvater Agustin sie nannte. In der
Kaserne erkannte er, daß die Menschen von seiner Klasse, die
mit weißer Haut und wirtschaftlicher Macht, nur eine Handvoll
waren, die überwiegende Mehrheit war von gemischter Rasse
und arm, aber in Santiago entdeckte er dann, daß es noch eine
starke, zahlreiche Mittelklasse gab, gebildet und politisch
interessiert und das eigentliche Rückgrat des Landes, der vor
Krieg oder Elend geflohene Einwanderer, Wissenschaftler,
Lehrer, Philosophen, Buchhändler angehörten, Menschen mit
fortschrittlichen Ideen. Er staunte die Beredsamkeit seiner neuen
Freunde an wie einer, der sich zum erstenmal verliebt. Er
wünschte Chile zu verändern, völlig um und um zu kehren, es zu
reinigen. Er war schon fast überzeugt, daß die Konservativen ausgenommen die in seiner eigenen Familie, die in seinen
Augen nicht aus Schlechtigkeit, sondern aus einem Irrtum
heraus handelten
- zu den Anhängern Satans gehörten,
angenommen, Satan wäre mehr als eine pittoreske Erfindung,
und er hielt sich bereit, in der Politik mitzuwirken, sowie er sich
selbständig machen konnte. Ihm war klar, daß es dazu noch
einiger Jahre bedurfte, deshalb betrachtete er die Reise in die
Vereinigten Staaten als einen kräftigen Lungenzug frischer Luft:
er würde die beneidenswerte Demokratie der Nordamerikaner
beobachten und davon lernen können, würde lesen, worauf er
Lust hatte, ohne sich um die katholische Zensur zu kümmern,
und sich über die Fortschritte des modernen Lebens
unterrichten. Während in der übrigen Welt Monarchien stürzten,
neue Staaten entstanden, Kontinente kolonisiert und die
erstaunlichsten Dinge erfunden wurden, diskutierte in Chile das
Parlament über das Recht von
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