Portrat in Sepia
Wunsch, ihn zu öffnen, getraute es sich aber doch
nicht, denn ihm war strengstens eingetrichtert worden, ein
Ehrenmann hält das Auge von fremden Briefen und die Hand
von fremdem Gelde fern. Aber endlich siegte doch die Neugier
über das Ehrgefühl - schließlich ging es um sein Schicksal,
rechtfertigte er sich
-, und mit dem Rasiermesser löste er
vorsichtig das Siegel, hielt dann den Umschlag in den Dampf
aus einem Wasserkessel und öffnete ihn unter tausend
Vorsichtsmaßnahmen. Und so entdeckte er, daß die Pläne des
Großvaters unter anderem dahin gingen, ihn auf eine
nordamerikanische Militärakademie zu schicken. Es sei
jammerschade, fügte der Großvater hinzu, daß Chile keinen
Krieg gegen ein benachbartes Land führe, damit sein Enkel mit
der Waffe in der Hand zum Manne würde, wie es sich gehöre.
Severo warf den Brief ins Meer und schrieb einen anderen, der
seine eigenen Wünsche enthielt, steckte ihn in denselben
Umschlag und strich geschmolzenen Lack über das
aufgebrochene Siegel. In San Francisco erwartete ihn seine
Tante Paulina auf dem Kai, begleitet von zwei Lakaie n und von
Williams, ihrem hochvornehmen Majordomus. Sie hatte sich
groß herausgeputzt, trug einen irrwitzigen Hut und
verschwenderisch viele Schleier dran und drum, die im Winde
wehten, und wäre sie nicht so vollgewichtig gewesen, wäre sie
mit ihnen durch die Luft gesegelt. Sie brüllte vor Lachen, als sie
den Neffen mit dem Christus im Arm den Laufsteg
herunterkommen sah, dann preßte sie ihn an ihren
Opernsängerinnenbusen und erstickte ihn schier zwischen ihren
riesigen Brüsten und mit ihrem Gardenienparfum. »Als erstes
werden wir uns von diesem Ungetüm trennen«, sagte sie und
zeigte auf den Christus. »Und dann werden wir dir auch
Kleidung kaufen müssen, hier geht kein Mensch in so einer
Aufmachung«, fügte sie hinzu.
»Der Anzug hat Papa gehört«, erklärte Severo gekränkt.
»Das merkt man, du siehst aus wie ein Leichenbestatter«,
stellte. Paulina fest, aber kaum hatte sie es ausgesprochen, als
ihr einfiel, daß der Junge erst vor kurzem seinen Vater verloren
hatte. »Oh, verzeih mir, Severo, ich wollte dich nicht verletzen.
Dein Vater war mein Lieblingsbruder, der einzige in der
Familie, mit dem man reden konnte.«
»Ein paar von seinen Sachen wurden für mich passend
gemacht, weil wir sie nicht wegschmeißen wollten«, erklärte
Severo mit zitternder Stimme. »Das war nicht gerade ein guter
Anfang. Kannst du mir verzeihen?«
»Ist schon gut, Tante.«
Bei der ersten sich bietenden Gelegenheit übergab er ihr den
gefälschten Brief von Großvater Agustin. Sie warf einen eher
zerstreuten Blick darauf. »Was stand in dem anderen?« fragte
sie. Mit hochroten Ohren wollte Severo abstreiten, was er getan
hatte, aber sie ließ ihm keine Zeit, sich in Lügen zu verstricken.
»Ich hätte es genauso gemacht, Junge. Ich möchte doch nur
wissen, was im Brief meines Vaters stand, um ihm antworten zu
können, nicht um mich danach zu richten.«
»Du sollst mich auf eine Militärakademie schicken oder in
den Krieg, wenn es in dieser Gegend einen gibt.«
»Da kommst du zu spät, den hat es schon gegeben. Aber jetzt
bringen sie die Indianer um, falls es dich interessiert. Die
verteidigen sich nicht schlecht, die Indianer; stell dir vor, in
Wyoming haben sie den General Custer und mehr als
zweihundert Soldaten des Siebenten Kavallerieregiments
getötet. Hier wird von nichts anderem geredet. Es heißt, ein
Indianer mit Namen Regen im Gesicht denk nur, wie poetisch!
habe geschworen, sich am Bruder des Generals zu rächen, und
habe ihm in dieser Schlacht das Herz aus der Brust gerissen und
verschlungen. Hast du immer noch Lust, Soldat zu werden?«
fragte Paulina del Valle grinsend.
»Ich habe niemals zum Militär gehen wollen, das sind so
Ideen von Großvater Agustin.«
»In dem Brief, den du gefälscht hast, lese ich, daß du gern
Rechtsanwalt werden möchtest. Ich sehe, der Rat, den ich dir
vor Jahren gab, war nicht ins Leere geredet. So gefällt mir das,
Junge. Die amerikanischen Gesetze sind andere als die
chilenischen, aber das ist unwichtig. Du wirst Rechtsanwalt. Du
wirst als Lehrling in die beste Anwaltskanzlei von Kalifornien
eintreten, für etwas müssen meine Beziehungen doch gut sein«,
versicherte Paulina.
»Ich werde mein ganzes Leben in deiner Schuld stehen,
Tante«, sagte Severo beeindruckt. »Sicher doch. Ich hoffe nur,
du vergißt es nicht, schau, das Leben ist lang, und man kann
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