Portrat in Sepia
diesen feierlichen Abschied
sah er mir nach. Frederick Williams erwartete mich am Bahnhof
und brachte mich in der Kutsche zum Haus an der Calle Ejército
Libertador. Es befremdete ihn, mich so abgemagert zu sehen,
und meine Erklärung, ich sei sehr krank gewesen, befriedigte
ihn nicht, er beobachtete mich aus dem Augenwinkel und fragte
eindringlich nach Diego, ob ich glücklich sei, wie die Familie
meiner Schwiegereltern sei und ob ich mich an das Landleben
gewöhnt hätte. Das Haus meiner Großmutter, einstmals das
glanzvollste in diesem Viertel der Prachtbauten, war so
altersschwach geworden wie seine Herrin. Mehrere Fensterläden
hingen in ihren Angeln, die Mauern hatten alle Farbe verloren,
der Garten war völlig vernachlässigt, der Frühling hatte ihn noch
kaum berührt, er steckte noch im tiefsten traurigen Winterschlaf.
Drinnen war die Trostlosigkeit noch schlimmer, die schönen
Salons von einst waren leer, Möbel, Teppiche und Bilder waren
verschwunden; nicht eines der berühmten impressionistischen
Gemälde war geblieben, die noch vor ein paar Jahren für soviel
Aufregung gesorgt hatten. Onkel Frederick erklärte mir, daß
meine Großmutter in ihrer Vorbereitung auf den Tod fast alles
der Kirche übereignet habe. »Aber ich glaube, ihr Geld ist noch
da, Aurora, sie rechnet jeden Betrag auf den Centavo genau
nach und hat ihre Rechnungsbücher unter dem Bett liegen«,
fügte er mit einem belustigten Grinsen hinzu. Sie, die eine
Kirche nur betrat, um gesehen zu werden, die diesen Schwarm
von zudringlichen Priestern und dienstwilligen Nonnen nicht
ausstehen konnte, weil er ständig um die Familie del Valle
herumflatterte, hatte in ihrem Testament eine beträchtliche
Summe für die katholische Kirche bestimmt. Immer eine
gerissene Geschäftsfrau, machte sie sich bereit, im Tode das zu
kaufen, was ihr im Leben so wenig genützt hatte. Williams
kannte meine Großmutter besser als sonst jemand, und ich
glaube, er liebte sie fast so sehr wie ich, und gegen alle
Vorhersagen neidischer Zungen in der Familie hatte er ihr nicht
das Vermögen gestohlen, um sie im Alter allein zu lassen,
sondern die Interessen der Familie jahrelang verteidigt, war ihr
ein würdiger Ehemann und willens, sie bis zum letzten Atemzug
zu begleiten, und tat noch viel mehr für mich, wie sich in den
kommenden Jahren erwies. Paulina hatte nur noch wenige klare
Augenblicke, die Medikamente, die die Schmerzen lindern
sollten, hielten sie in einer Randzone ohne Erinnerungen und
ohne Wünsche. In den letzten Monaten war sie unglaublich
zusammengeschrumpft, weil sie nicht schlucken konnte und mit
Milch ernährt wurde, die man ihr in einem Gummischlauch
durch die Nase zuführte. Sie hatte nur noch einige wenige weiße
Strähnen auf dem Kopf, und ihre großen dunklen Augen waren
zu kleinen schwarzen Punkten in einer Faltenlandschaft
geworden. Ich beugte mich hinab, um sie zu küssen, aber sie
erkannte mich nicht und wandte den Kopf ab; ihre Hand
dagegen suchte tastend in der Luft nach der ihres Mannes, und
als er sie nahm, zog ein glättender Hauch von Frieden über ihr
Gesicht.
»Sie leidet nicht, Aurora, wir geben ihr viel Morphium«,
erklärte mir Onkel Frederick.
»Haben Sie ihre Söhne benachrichtigt?«
»Ja, ich habe ihnen vor zwei Monaten telegrafiert, aber sie
haben noch nicht geantwortet, und ich glaube nicht, daß sie
rechtzeitig hier sein werden, Paulina bleibt nicht mehr viel
Zeit«, sagte er erregt. Und so war es, Paulina starb friedlich am
Tag darauf. Bei ihr waren ihr Mann, Doktor Radovic, Severo,
Nivea und ich; ihre Söhne erschienen sehr viel später mit ihren
Anwälten, die für sie um das Erbe kämpfen sollten, das ihnen
niemand streitig machte. Der Arzt hatte meiner Großmutter den
Nahrungsschlauch abgenommen, und Williams hatte ihr
Handschuhe angezogen, weil ihre Hände eiskalt waren. Ihre
Lippen waren blau, und sie war sehr bleich, atmete kaum
merkbar und immer seltener, ohne Angst, und dann gar nicht
mehr. Radovic fühlte ihren Puls, es verging eine Minute,
vielleicht zwei, dann sagte er, sie sei gegangen. Eine sanfte
Stille herrschte im Raum, etwas Geheimnisvolles geschah,
vielleicht hatte der Geist meiner Großmutter sich von ihr gelöst
und flatterte wie ein verirrter Vogel abschiednehmend über
ihrem Körper. Ihr Hingang weckte unendliche Trostlosigkeit in
mir, eine Empfindung, die mir nicht neu war, aber woher ich sie
kannte, wußte ich nicht zu erklären, erst Jahre später,
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