Portrat in Sepia
als das
Geheimnis meiner Kindheit endlich gelöst war, verstand ich,
daß der Tod meines Großvaters Tao mich einst in ebensolches
Leid gestürzt hatte. Die Wunde war nicht vernarbt, nur
verborgen gewesen, und jetzt riß sie wieder auf mit dem
gleichen brennenden Schmerz. Das Gefühl, verwaist zu sein, das
meine Großmutter mir hinterließ, hatte mich schon als
Fünfjährige heimgesucht, als Tao aus meinem Leben
verschwand. Es war, als ob die Schmerzen meiner Kindheit Verlust um Verlust -, die jahrelang in den untersten Schichten
meines Gedächtnisses begraben gewesen waren, ihr drohendes
Drachenhaupt erhoben hätten, um mich zu verschlingen: meine
Mutter stirbt bei meiner Geburt, mein Vater stirbt, nachdem er
jahrelang nichts von mir wissen wollte, meine Großmutter Eliza
verläßt mich, und das Schlimmste: Auch der Mensch war nicht
mehr da, den ich am meisten liebte mein Großvater Tao.
Neun Jahre sind vergangen seit diesem Septembertag, an dem
Paulina von mir ging; dieses und anderes Unglück habe ich
hinter mir gelassen, heute kann ich mit ruhigem Herzen an
meine grandiose Großmutter denken. Sie ist nicht in der
unendlichen Schwärze eines endgültigen Todes verschwunden,
wie mir zu Anfang schien, ein Teil von ihr ist hiergeblieben und
umgibt mich ständig gemeinsam mit Tao, zwei sehr
unterschiedliche Geister, die mich begleiten und mir helfen, der
ihre bei den praktischen Dingen des Lebens und der seine, um
die Dinge des Gefühls zu klären; aber als meine Großmutter
nicht mehr weiteratmete auf jenem Feldbett, auf dem sie ihre
letzten Monate verbracht hatte, ahnte ich nicht, daß sie
wiederkehren würde, und der Schmerz warf mich um. Wenn ich
fähig wäre, meine Empfindungen nach außen zu kehren, würde
ich vielleicht weniger leiden, aber sie bleiben innen stecken wie
ein riesiger Eisblock, und Jahre können vergehen, ehe das Eis zu
schmelzen beginnt. Ich weinte nicht, als sie ging. Die Stille im
Raum war wie ein Fehler im Protokoll, eine Frau, die gelebt
hatte wie Paulina, hätte singend und mit Orchesterbegleitung
wie in der Oper sterben müssen, statt dessen verabschiedete sie
sich schweigend, mit einer Zurückhaltung, die sie in ihrem
ganzen Leben auch nicht einmal geübt hatte. Die Männer gingen
aus dem Zimmer, und Nivea und ich kleideten sie für ihre letzte
Reise behutsam in das Karmeliterinnenhabit, das seit einem Jahr
im Schrank hing, konnten aber doch der Versuchung nicht
widerstehen, ihr zuerst ihre beste französische Unterwäsche aus
malvenfarbener Seide anzuziehen. Als wir den Körper anhoben,
merkten wir, wie leicht sie geworden war, nur noch ein
zerbrechliches Skelett mit ein paar lose hängenden
Haarsträhnen. Schweigend dankte ich ihr für alles, was sie für
mich getan hatte, sagte die zärtlichen Worte zu ihr, die ich
früher nie auszusprechen gewagt hä tte, küßte ihre schönen
Hände, ihre Perlmuttlider, ihre Porzellanstirn, bat sie um
Verzeihung für meine Füßestampferei in der Kindheit, dafür,
daß ich so spät gekommen war, für die vertrocknete Eidechse,
die ich in einem vorgetäuschten Hustenanfall ausgespuckt hatte,
und für andere plumpe Scherze, die sie hatte ertragen müssen,
während Nivea den guten Vorwand nutzte, den Paulina ihr bot,
um ohne Laut ihre toten Kinder zu beweinen. Als wir meine
Großmutter angekleidet hatten, besprühten wir sie mit ihrem
Gardenienparfum und öffneten Vorhänge und Fenster, damit der
Frühling hereinkam, wie sie es gern gehabt hätte. Keine
Klageweiber, keine schwarzen Kleider, keine zugehängten
Spiegel, Paulina del Valle war eine verwegene Königin und
verdiente im Septemberlicht gefeiert zu werden. So verstand es
auch Williams, der selbst zum Markt fuhr und die Kutsche mit
frischen Blumen vollud, um das Haus zu schmücken.
Als die Verwandten und Freunde kamen - in Trauer, das
Taschentuch in der Hand -, waren sie empört, wo hätte man
wohl je eine Totenwache im hellsten Sonnenlicht, mit
Hochzeitsblumen und ohne Tränen gesehen! Sie gingen,
Andeutungen tuschelnd, und noch heute gibt es einige, die mit
dem Finger auf mich zeigen, überzeugt, ich wäre über Paulinas
Tod froh gewesen, weil ich die Hand auf die Erbschaft legen
wollte. Ich habe aber nichts geerbt, weil das sehr schnell ihre
Söhne mit ihren Anwälten übernahmen, und ich brauchte es
auch nicht, weil mein Vater mir genug hinterlassen hat, um
menschenwürdig davon zu leben, und was ich vielleicht darüber
hinaus brauche, kann
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