Portrat in Sepia
umfangreichen Briefwechsel zu trösten, man mußte Zeit
gewinnen. Meine Schwiegermutter hatte ein schwaches Herz
und würde nicht mehr lange leben, wie die Ärzte ja festgestellt
hatten. Onkel Frederick versicherte mir, er habe keine Eile,
Chile zu verlassen, ich sei seine einzige Familie, er liebe mich
wie eine Tochter oder eine Enkelin. »Haben Sie denn
niemanden in England?« fragte ich. »Niemanden.«
»Sie wissen sicherlich, daß schon immer alles mögliche über
Sie geklatscht wird, es heißt, Sie seien ein heruntergekommener
Lord, und meine Großmutter hat das nie bestritten.«
»Nichts ist der Wahrheit ferner, Aurora!« rief er lachend aus.
»Dann haben Sie gar kein Wappenschild irgendwo
versteckt?« fragte ich ebenfalls lachend. »Sehen Sie selbst,
Kind«, antwortete er. Er zog das Jackett aus, knöpfte das Hemd
auf, schob das Unterhemd hoch und zeigte mir seinen Rücken.
Er war mit schrecklichen Narben überzogen. »Prügelstrafe.
Hundert Peitschenhiebe, weil ich in einer Strafkolonie in
Australien Tabak gestohlen hatte.
Ich habe dort fünf Jahre verbüßt, bevor ich mit einem Floß
fliehen konnte. Auf hoher See hat mich ein chinesisches
Piratenschiff aufgefischt, und ich mußte arbeiten wie ein Sklave,
aber kaum kamen wir in die Nähe von Land, bin ich wieder
ausgerissen. So ging das von Schiff zu Schiff, bis ich in
Kalifornien landete. Das einzige, was ich von einem englischen
Edelmann habe, ist der Akzent, den ich von einem echten Lord
lernte, meinem ersten Dienstherrn in Kalifornien. Er brachte mir
auch die Obliegenheiten eines Butlers bei. Paulina del Valle
stellte mich 1870 ein, und seither war ich an ihrer Seite.«
»Kannte meine Großmutter diese Geschichte, Onkel?« fragte
ich, als ich mich von meiner Verblüffung erholt hatte und
wieder sprechen konnte. »Natürlich. Paulina machte es großen
Spaß, daß die Leute einen Sträfling mit einem Aristokraten
verwechselten.«
»Weshalb wurden Sie verurteilt?«
»Weil ich ein Pferd gestohlen hatte, als ich fünfzehn war. Sie
hätten mich hängen können, aber ich hatte Glück, sie wandelten
die Strafe ab, und so landete ich in Australien. Keine Sorge,
Aurora, ich habe in meinem Leben nie wieder auch nur einen
Centavo gestohlen, von dem Laster haben die Peitschenhiebe
mich geheilt, allerdings nicht von meiner Vorliebe für den
Tabak«, sagte er lachend.
So blieben wir also zusammen. Paulinas Söhne verkauften das
Haus in der
Ejército Libertador, in dem sich heute eine
Mädchenschule befindet, und versteigerten das wenige an
wertvollen Sachen, was das Haus noch enthielt. Ich hatte das
mythologische Bett gerettet und beiseite geschafft, ehe die
Erben kamen, hatte es, in seine Teile zerlegt, in einem Lager des
Krankenhauses von Iván Radovic versteckt, wo es blieb, bis die
Anwälte es satt hatten, in allen Ecken herumzustochern und
nach den letzten Spuren der Besitztümer meiner Großmutter zu
suchen. Frederick Williams und ich kauften ein Landhaus in der
Umgebung der Stadt in Richtung auf die Anden; wir besitzen
zwölf Hektar Land, eingefaßt von Zitterpappeln, überflutet von
duftendem Jasmin, bewässert von einem bescheidenen Bach,
und alles wächst, ohne um Erlaubnis zu fragen. Hier züchtet
Frederick Williams Hunde und Rassepferde, spielt Krocket und
betreibt andere langweilige Lustbarkeiten, wie sie die Engländer
nun einmal lieben; und hier habe ich mein Winterquartier. Das
Haus ist ein altes Gemäuer, aber es hat einen gewissen Zauber
und Raum genug für mein Fotolabor und für das berühmte
florentinische Bett, das mit seinen vielfarbigen
Meeresgeschöpfen mitten in meinem Zimmer steht. Darin
schlafe ich, vom wachsamen Geist meiner Großmutter Paulina
beschützt, die immer rechtzeitig erscheint, um die Wesen in den
schwarzen Pyjamas tüchtig zu erschrecken und zu verjagen.
Santiago wird bestimmt noch wachsen, aber auf der anderen
Seite, zum Zentralbahnhof hin, und uns werden sie in Frieden
lassen in unserem beschaulichen Gefilde aus Pappeln und
Hügeln.
Dank meinem Onkel Lucky, der der Neugeborenen seinen
Glücksatem ins Gesicht blies, und dank der großzügigen
Vorsorge meiner Großmutter und meines Vaters kann ich sagen,
ich habe ein gutes Leben.
Ich verfüge über genug Mittel und über die Freiheit, das zu
tun, was mir Freude macht, ich kann meine Zeit voll darauf
verwenden, die teilweise recht rauhe Geographie Chiles mit der
Kamera um den Hals zu bereisen, was ich in den letzten acht,
neun Jahren
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