Portrat in Sepia
auch getan habe. Die Leute reden hinter meinem
Rücken, das ist nicht zu vermeiden; einige Verwandte und
Bekannte wollen von mir nichts mehr wissen, und wenn sie
mich auf der Straße sehen, tun sie, als kennten sie mich nicht,
sie können schließlich nicht dulden, daß eine Frau ihren Mann
verläßt. Diese Unfreundlichkeiten rauben mir nicht den Schlaf:
ich brauche nicht aller Welt zu gefallen, nur denjenigen, an
denen mir wirklich etwas liegt, und das sind nicht viele. Das
traurige Ergebnis meiner Verbindung mit Diego Dominguez
hätte mich eigentlich für immer vor überstürzter,
hingebungsvoller Liebe warnen müssen, aber so ist es nicht
gekommen, ich bin nicht zurückgeschreckt. Sicher, ich war
einige Monate tief getroffen, schleppte mich tagtäglich mit dem
Gefühl dahin, ganz und gar erledigt zu sein, meine einzige Karte
ausgespielt und alles verloren zu haben. Wahr ist auch, daß ich
dazu verurteilt bin, eine verheiratete Frau ohne Mann zu sein,
was mich hindert, mein Leben »wieder aufzubauen«, wie meine
Tanten sagen, aber dieser sonderbare Zustand gibt mir große
Bewegungsfreiheit. Ein Jahr nachdem ich mich von Diego
getrennt hatte, verliebte ich mich wieder, und das bedeutet wohl,
daß ich ein dickes Fell habe und Wunden bei mir schnell
vernarben. Die zweite Liebe war keine friedliche Freundschaft,
die sich mit der Zeit zu einer bewährten Zweisamkeit auswuchs,
sie war schlicht ein leidenschaftlicher Impuls, der uns beide
überrumpelte und sich durch puren Zufall als geglückt erwies…
na schön, bis jetzt, wer weiß, wie es in Zukunft aussieht. Es war
an einem Wintertag, einem dieser Tage mit hartnäckigem,
grünem Regen, vereinzelten Blitzen und Zentnerlast im Gemüt.
Paulinas Söhne und ihre Winkeladvokaten waren wieder einmal
gekommen, um mich mit ihren ewigen Dokumenten zu plagen,
jedes mit drei Kopien und elf Stempeln, die ich unterschrieb,
ohne sie zu lesen. Frederick Williams und ich waren bereits aus
dem Haus in der Ejército Libertador ausgezogen und wohnten
im Hotel, weil die Reparaturen an dem Landhaus, in dem wir
heute leben, noch nicht abgeschlossen waren. Onkel Frederick
hatte auf der Straße Doktor Iván Radovic getroffen, den wir
schon längere Zeit nicht gesehen hatten, und sie hatten sich
verabredet, mit mir zusammen in die Aufführung einer Zarzuela
zu gehen, mit der eine spanische Theatertruppe durch
Südamerika tourte, aber an dem festgesetzten Tag mußte Onkel
Frederick sich mit einer Erkältung ins Bett legen, und ich sah
mich allein in der Halle des Hotels warten, mit eiskalten Händen
und schmerzenden Füßen, weil mich die neuen Schuhe
drückten. An den Fensterscheiben rann der Regen wie ein
Wasserfall herab, und der Wind schüttelte die Bäume wie
Federbetten, der Abend lud wirklich nicht zum Ausgehen ein,
und fast beneidete ich Onkel Frederick um seinen Katarrh, der
ihm erlaubte, mit einem guten Buch und einer Tasse heißer
Schokolade im Bett zu bleiben, dennoch, als Iván Radovic die
Halle betrat, vergaß ich das Unwetter. Er kam in einem
klatschnassen Mantel und lächelte mich an, und da begriff ich,
daß er viel besser aussah, als ich in Erinnerung hatte. Wir
blickten uns in die Augen, und es war, als sähen wir uns zum
erstenmal, ich jedenfalls betrachtete ihn ernsthaft, und mir
gefiel, was ich sah. Es gab ein langes Schweigen, eine Pause, die
unter anderen Umständen sehr drückend hätte sein können, aber
hier nur eine Art Dialog zu sein schien. Er half mir, das
Regencape umzulegen, und wir gingen langsam, zaudernd zur
Tür, immer noch Auge in Auge. Keiner von uns beiden wollte
gern dem Gewitter trotzen, das über den Himmel fegte, aber
trennen wollten wir uns auch nicht. Ein Portier kam mit einem
großen Regenschirm und bot an, uns zur Kutsche zu geleiten,
die vor der Tür wartete, also gingen wir mit ihm, wortlos,
zweifelnd. Da war kein Aufblitzen plötzlicher Erkenntnis, kein
Ahnen aus tiefstem Gefühl, daß wir verwandte Seelen seien, ich
spürte auch nicht den Beginn einer Liebe wie aus dem Roman,
nichts von alledem, ich bemerkte nur, welche Sprünge mein
Herz tat, wie mir die Luft wegblieb, empfand die Hitze und das
Kribbeln der Haut, den übermächtigen Wunsch, diesen Mann zu
berühren. Ich fürchte, von meiner Seite aus war nichts Geistiges
in dieser Begegnung, nur blanke Lust, allerdings war ich damals
noch sehr unerfahren und mein Wortschatz allzu beschränkt, um
dieser Erregung den Namen zu geben, den sie
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