Portrat in Sepia
ihren Romanen schrieb, alle waren sie ihrem
Urteil nach gewöhnlich und ihrer nicht würdig. Sie glaubte, dem
auserwählten Schicksal zu begegnen, auf das sie ein Recht hatte,
als sie den einzigen Mann kennenlernte, der sie nicht zweimal
ansah - Matías Rodríguez de Santa Cruz. Sie hatte ihn bei
verschiedenen Gelegenheiten von fern erblickt, auf der Straße
oder in der Kutsche mit Paulina del Valle, aber sie hatten kein
Wort gewechselt, er war soviel älter als sie, lebte in Kreisen, zu
denen sie keinen Zugang hatte, und wäre es nicht der Statue der
Republik wegen gewesen, wären sie sich vielleicht niemals
begegnet. Unter dem Vorwand, das kostspielige Projekt zu
beaufsichtigen, trafen sich im Atelier des Bildhauers die
Politiker und Magnaten, die zur Finanzierung der Statue
beitrugen. Der Künstler liebte den Ruhm und das gute Leben,
und während er arbeitete, scheinbar vertieft in die Herstellung
der Form, in die die Bronze gegossen werden würde, genoß er
die derbe männliche Gesellschaft, die von den Gästen
mitgebrachten Flaschen Champagner, die frischen Austern und
die guten Zigarren. Auf einem Podium, in dem natürlichen
Licht, das von einer Luke in der Decke hereinfiel, balancierte
Lynn Sommers auf den Zehenspitzen, die Arme hochgereckt, in
einer Stellung, die sie unmöglich länger als ein paar Minuten
durchstehen konnte, dabei hielt sie in einer Hand einen
Lorbeerkranz und in der ändern ein Pergament mit der
amerikanischen Verfassung. Bekleidet war sie mit einer
leichten, in Falten gelegten Tunika, die ihr von einer Schulter
bis auf die Knie herabfiel und den Körper ebenso verhüllte, wie
sie ihn enthüllte. San Francisco war ein guter Markt für
weibliche Akte, jede Bar zeigte Bilder von fülligen Odalisken,
Fotos von Prostituierten mit nacktem Hintern und Gipsfresken
mit Nymphen, die von unermüdlichen Satyrn verfolgt wurden;
ein völlig nacktes Modell hätte weniger Neugier erregt als dieses
Mädchen, das sich weigerte, unbekleidet Modell zu stehen, und
sich dem beobachtenden Blick seiner Mutter nicht zu entziehen
gedachte. Eliza Sommers, dunkel gekleidet und steif auf einem
Stuhl neben dem Podium sitzend, auf dem ihre Tochter posierte,
hielt Wache, ohne die Austern oder den Champagner
anzurühren, womit die Herren sie abzulenken versuchten. Diese
alten Knaben kamen von Lüsternheit getrieben hierher, nicht aus
Liebe zur Kunst, das war ja wohl sonnenklar. Sie hatte zwar
nicht die Macht, ihre Anwesenheit zu verhindern, aber sie
konnte sich wenigstens versichern, daß ihre Tochter keine
Einladungen annahm und, soweit möglich, nicht über die Witze
lachte oder auf dumme Fragen antwortete. »Auf dieser Welt
gibt’s nichts umsonst. Für solchen Plunder würdest du einen
hohen Preis bezahlen müssen«, warnte sie das Mädchen, als
Lynn bockig wurde, weil sie sich genötigt sah, ein Geschenk
zurückzuweisen. Das Posieren für die Statue erwies sich als
endloser, langweiliger Vorgang, der Lynn Wadenkrämpfe
einbrachte, während sie vor Kälte erstarrte. Es war in den ersten
Januartagen, und die Öfen in den Nischen konnten diesen Raum
mit der hohen Decke kaum erwärmen, zumal immer wieder ein
kalter Luftzug hindurchstrich. Der Bildhauer arbeitete im
Mantel und mit nervtötender Langsamkeit, zerstörte heute, was
er gestern zustande gebracht hatte, als habe er gar keine voll
durchdachte Idee trotz der Hunderte von Skizzen der
»Republik«, die an den Wänden hingen. Eines unheilvollen
Dienstags erschien Feliciano Rodriguez de Santa Cruz mit
seinem Sohn Matías im Atelier. Er hatte von dem exotischen
Modell gehört und wollte es kennenlernen, bevor das Monument
auf dem Platz aufgestellt wurde, das Mädchen mit Namen in der
Zeitung erschien und sich in eine unerreichbare Beute
verwandelte in dem hypothetischen Fall, daß das Monument
wirklich eingeweiht wurde. Bei dem Schneckentempo, in dem
die Sache ablief, konnte es leicht passieren, daß noch vor dem
Bronzeguß die Gegner des Projekts die Schlacht gewannen und
alles sich in nichts auflöste; es gab viele, die den Gedanken
einer nicht angelsächsischen »Republik« ablehnten. Felicianos
altes Schlawinerherz schlug noch immer aufgeregt, wenn eine
Eroberung in der Luft lag, und genau deshalb war er hier. Er war
schon über siebzig, aber die Tatsache, daß das Modell noch
nicht einmal zwanzig war, schien ihm kein unüberwindliches
Hindernis; er war überzeugt, daß es kaum etwas auf der Welt
gab, was mit Geld
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