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Portrat in Sepia

Portrat in Sepia

Titel: Portrat in Sepia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Allende
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nicht zu kaufen wäre. Ein Augenblick
genügte ihm, um die Situation einzuschätzen: er sah Lynn auf
dem Podium, so jung und verletzlich, zitternd unter ihrer
unanständigen Tunika, und das Atelier voller Kerle, bereit, sie
zu verschlingen. Aber nicht Mitleid mit dem Mädchen oder die
Scheu vor einem Wettstreit unter Kannibalen waren es, die
seinen ursprünglichen Impuls, sie zu verführen, zunichte
machten - sondern Eliza Sommers. Er erkannte sie sofort,
obwohl er sie nur ein paarmal gesehen hatte. Er hatte ja nicht
geahnt, daß das Modell, um das er soviel Gerede gehört hatte,
die Tochter einer Freundin seiner Frau war.
    Lynn erblickte Matías erst eine halbe Stunde später, als der
Bildhauer die Sitzung für beendet erklärte und sie den
Lorbeerkranz und das Pergament forttun und vom Podium
heruntersteigen konnte. Ihre Mutter legte ihr eine Decke um die
Schultern und reichte ihr eine Tasse heiße Schokolade, während
sie sie hinter den Wandschirm führte, wo sie sich anziehen
sollte. Matías lehnte am Fenster und schaute geistesabwesend
auf die Straße; seine Augen waren die einzigen, die in diesem
Augenblick nicht auf Lynn geheftet waren. Sie erkannte sofort
die männliche Schönheit, die Jugend und gute Herkunft dieses
Mannes, seine makellose Kleidung, die stolze Haltung, die
kastanienbraune Haartolle, die ihm sorgfältignachlässig in die
Stirn fiel, die gepflegten Hände mit den goldenen Ringen an den
Fingern. Verwundert, daß er sie so gar nicht beachtete, täuschte
sie ein Stolpern vor, um ihn aufmerksam zu machen. Mehrere
Hände streckten sich aus, um sie zu halten, nur nicht die des
Dandys am Fenster, der sie völlig gleichgültig mit dem Blick
bloß streifte, als wäre sie Teil der Einrichtung. Und da entschied
Lynn, deren Einbildungskraft davongaloppierte und sich nicht
im geringsten um Wahrscheinlichkeit kümmerte, daß dieser
Mann der Liebhaber war, der ihr seit Jahren in den
Liebesromanen angekündigt wurde: sie war endlich ihrem
Schicksal begegnet. Als sie sich hinter dem Wandschirm
ankleidete, waren ihre Brustwarzen hart wie Kieselsteine.
    Matías’ Gleichgültigkeit war nicht vorgetäuscht, er hatte das
junge Mädchen tatsächlich nicht bemerkt, er war aus ganz
anderen Gründen hier, die mit lüsternen Trieben rein gar nichts
zu tun hatten. Er mußte mit seinem Vater über Geld reden und
hatte dafür keine andere Gelegenheit gefunden. Ihm stand das
Wasser bis zum Hals, er brauchte sofort einen Scheck, um seine
Schulden in einer Spielhölle in Chinatown zu bezahlen. Sein
Vater hatte ihn gewarnt, er denke nicht daran, solcherlei
Vergnügungen weiterhin zu finanzieren, und wäre es nicht eine
Angelegenheit auf Leben oder Tod gewesen, hätte er sie schon
geregelt, dann hätte er nämlich das Nötige nach und nach aus
seiner Mutter herausgeholt. In diesem Fall jedoch waren die
Chinesen nicht bereit, zu warten, und Matías hatte ganz richtig
vermutet, daß der Besuch bei dem Bildhauer seinen Vater in
gute Laune versetzen und es leicht sein werde, das dringend
Gewünschte von ihm zu erhalten. Erst ein paar Tage später auf
einer Bummeltour mit seinen Freunden erfuhr er, daß er im
selben Raum mit Lynn Sommers gewesen war, dem im
Augenblick am hitzigsten begehrten jungen Mädchen. Es
kostete ihn Anstrengung, sich an sie zu erinnern, und er fragte
sich, ob er sie wohl wiedererkennen würde, wenn er ihr auf der
Straße begegnete. Als Wetten abgeschlossen wurden, wer sie
wohl als erster verführen werde, ließ er sich aus purer Trägheit
ebenfalls eintragen und verkündete dann überheblich wie
gewohnt, er werde es in drei Etappen tun. In der ersten wolle er
sie dazu bringen, daß sie allein in die Garòonniere kam, wo er
sie seinen Kumpanen vorstellen werde, in der zweiten gedenke
er sie zu überreden, nackt vor ihnen zu posieren, in der dritten
werde er sie verführen, und das alles innerhalb eines Monats.
Als er seinen Vetter Severo del Valle einlud, am kommenden
Mittwochabend die schönste Frau von San Francisco
kennenzulernen, bereitete er gerade die erste Etappe vor. Es war
sehr einfach gewesen, Lynn mit einem diskreten Wink ans
Fenster des Teesalons ihrer Mutter zu locken, sie an der Ecke zu
erwarten, als sie nach irgendeiner Ausrede herauskam, mit ihr
ein, zwei Häuserblocks weiterzugehen, ihr ein paar
Komplimente zu sagen, die eine Frau mit mehr Erfahrung nur
erheitert hätten, und sie in sein Atelier einzuladen, nicht ohne sie
zu ermahnen, doch ja

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