Portrat in Sepia
zum Fotografieren gebracht, da bin ich ganz sicher. Als
Severo del Valle mir eine Kamera schenkte, war mein erster
Gedanke, wenn ich diese Dämonen fotografieren könnte, würde
ich sie vernichten. Mit dreizehn Jahren habe ich es viele Male
versucht. Ich erfand komplizierte Systeme aus Rädchen und
Schnüren, um den Verschluß einer Kamera auszulösen, während
ich schlief, aber diese verfluchten Kreaturen waren offenkundig
unverletzlich gegenüber dem Angriff der Technik. Wenn man
einen ganz gewöhnlich erscheinenden Gegenstand oder Körper
wirklich aufmerksam beobachtet, verwandelt er sich in etwas
Niegesehenes, Wunderbares. Die Kamera kann Geheimnisse
enthüllen, die das nackte Auge oder der Verstand nicht erfassen,
alles verschwindet außer dem, auf was das Bild ausgerichtet ist.
Fotografieren ist eine Übung der Beobachtungsgabe, und das
Ergebnis ist immer ein Glücksfall; unter den Tausenden und
Abertausenden von Negativen, die mehrere Kästen in meinem
Atelier füllen, sind nur wenige außerordentlich gelungene. Mein
Onkel Lucky wäre einigermaßen enttäuscht, wenn er wüßte, wie
wenig sein Glückwunschatem auf meine Arbeit wirkt. Die
Kamera ist ein einfacher Apparat, auch der Ungeschickteste
kann mit ihr umgehen, die Herausforderung besteht darin, mit
ihr diese Verbindung von Wahrheit und Schönheit zu schaffen,
die sich Kunst nennt. Die Suche danach ist vor allem geistiger
Natur. Ich suche Wahrheit und Schönheit in der
Durchsichtigkeit eines herbstlichen Blattes, in der vollendeten
Form einer Muschel am Strand, in der Rundung einer
weiblichen Schulter, im Gefüge eines alten Baumstumpfes, aber
auch in anderen uns immer entgleitenden Formen der
Wirklichkeit. Manchmal, wenn ich in meiner Dunkelkammer an
einem Bild arbeite, tritt die Seele einer Person zutage oder die
Erregung anläßlich eines Ereignisses oder das lebendige Wesen
eines Gegenstandes, und dann sprengt Dankbarkeit mir die
Brust, und ich breche in Tränen aus, ich kann nicht anders.
Diese Offenbarung zu erreichen ist das Ziel meines Berufes.
Severo del Valle hatte mehrere Wochen Seefahrt vor sich, um
Lynn Sommers zu beweinen und über den Rest seines Lebens
nachzudenken. Er fühlte sich verantwortlich für das Kind
Aurora und hatte, kurz bevor er sich einschiffte, ein Testament
aufgesetzt, damit die kleine Erbschaft von seinem Vater sowie
seine Ersparnisse unmittelbar an sie gingen, falls er fiele. In der
Zwischenzeit würde sie jeden Monat die Zinsen erhalten. Er
wußte, daß Lynns Eltern sie besser behüten würden als irgend
jemand sonst, und nahm an, daß Paulina trotz all ihrer
Dreistigkeit nicht versuchen würde, sie ihnen mit Gewalt
wegzunehmen, weil ihr Mann ihr nicht erlauben würde, die
Angelegenheit in einen öffentlichen Skandal zu verwandeln. Am
Bug des Schiffes sitzend, den Blick aufs unendliche Meer
verloren, war Severo sich darüber im klaren, daß er über Lynns
Tod niemals hinwegkommen würde. Ohne sie wollte er nicht
leben. Im Kampf zu fallen war das Beste, was die Zukunft ihm
noch bieten konnte: bald und schnell zu sterben war alles,
worum er bat. Monatelang hatten die Liebe zu Lynn und sein
Entschluß, ihr zu helfen, seine Zeit und seine Aufmerksamkeit
in Anspruch genommen, deswegen hatte er die Rückkehr nach
Chile Tag um Tag verschoben, während zu Haus die Chilenen
seines Alters in Massen zu den Fahnen eilten. Auch an Bord
fuhren mehrere junge Leute mit in derselben Absicht wie er, den
Wehrdienst anzutreten - die Uniform zu tragen war eine Frage
der Ehre
-, mit denen setzte er sich zusammen, um die
Nachrichten vom Kriegsgeschehen zu besprechen, die der
Telegraph übermittelte. In den vier Jahren, die Severo in
Kalifornien verbrachte, hatte er sich innerlich von seinem
Vaterland gelöst, hatte den Aufruf zum Kampf hingenommen
wie eine Form, sich seinem Schmerz hinzugeben, aber er hatte
nicht den geringsten kriegerischen Eifer verspürt. Jedoch je
weiter das Schiff nach Süden fuhr, um so mehr ließ er sich von
der Begeisterung der übrigen anstecken. Er wollte Chile wieder
so dienen, wie er es in seiner Schulzeit hatte tun wollen, als er in
den Cafes mit anderen Schülern und Studenten diskutierte. Er
nahm an, daß seine alten Kameraden bereits seit Monaten im
Kampf standen, während er in San Francisco herumgestrichen
war und Zeit vergeudet hatte, um Lynn zu besuchen und MahJongg zu spielen. Wie sollte er soviel Feigheit vor Freunden und
Verwandten je rechtfertigen
Weitere Kostenlose Bücher