Portrat in Sepia
Er streckte die Hand danach aus, aber er
zitterte so sehr, daß er sie nicht öffnen konnte, und lag
wimmernd da, die Flasche gegen die Brust gepreßt, bis eine
junge Freiwillige zu ihm trat, sie für ihn öffnete und ihm half,
sie an die trockenen Lippen zu heben. Er trank sie in einem
Zuge aus, und dann, von der Frau angeleitet, die monatelang an
der Seite der Männer gekämpft hatte und sich auf die
Behandlung von Wunden so gut verstand wie die Ärzte, stopfte
er sich eine Handvoll Tabak in den Mund und kaute eifrig, um
die Krämpfe des Operationsschocks abzuschwächen. »Töten ist
nicht schwer, überleben ist schwer, mein armer Kleiner. Wenn
du nicht auf dich achtgibst, wird der Tod dich hinterrücks
abschleppen«, warnte ihn die Freiwillige. »Ich habe Angst«,
versuchte Severo zu sagen, und vielleicht hatte sie sein
Stammeln nicht verstanden, aber sie begriff seine Furcht, und so
nahm sie eine kleine Silbermedaille vom Hals und drückte sie
ihm in die Hände. »Möge die Heilige Jungfrau dir helfen«,
murmelte sie, beugte sich zu ihm hinab und küßte ihn kurz auf
den Mund, dann ging sie. Severo blieb zurück mit dem Gefühl
der Lippen auf den seinen und der Medaille in der Hand, die er
fest umklammerte. Er zitterte, seine Zähne schlugen
aufeinander, er brannte im Fieber; manchmal schlief er ein oder
wurde ohnmächtig, und wenn er wieder zu Bewußtsein kam,
betäubte ihn der Schmerz. Stunden später kam die Freiwillige
mit den braunen Zöpfen wieder und gab ihm ein paar feuchte
Lappen, damit er sich den Schweiß und das getrocknete Blut
abwischte, danach reichte sie ihm einen Messingteller mit
Maisbrei, ein Stück trockenes Brot und einen Becher mit
Zichorienkaffee, einem lauwarmen, schwärzlichen Gebräu, das
er nicht einmal zu kosten versuchte, weil Schwäche und
Übelkeit es nicht zuließen. Er verbarg den Kopf unter der
Decke, dem Leiden und der Verzweiflung ausgeliefert,
wimmernd und weinend wie ein Kind, bis er wieder einschlief.
»Du hast viel Blut verloren, mein Junge, wenn du nicht ißt, wirst
du sterben«, weckte ihn ein Kaplan, der zwischen den
Verwundeten umherging, ihnen tröstend zusprach und den
Sterbenden die letzte Ölung reichte. Da erinnerte sich Severo,
daß er in den Krieg gegangen war, um zu sterben. Das war sein
Ziel gewesen, als er Lynn verloren hatte, aber nun, da der Tod
hier war, über ihn gebeugt wie ein Geier, auf die Gelegenheit
wartend, ihm den letzten Schnabelhieb zu versetzen, rüttelte der
Selbsterhaltungstrieb ihn auf. Der Drang zu leben war stärker als
die brennende Qual, die vom Bein aus bis in jede Fiber seines
Körpers drang, war stärker als die Angst, die Ungewißheit und
der Schrecken. Er begriff, daß er keineswegs sterben wollte,
sondern verzweifelt wünschte, auf dieser Welt zu bleiben, zu
leben, in welchem Zustand und unter welchen Bedingungen
auch immer, auf jeden Fall zu bleiben, einbeinig, verstümmelt,
nichts zählte außer dem einen: weiter auf der Welt zu sein,
dazusein. Wie jeder Soldat wußte er, daß von zehn Amputierten
nur einer es schaffte, über Blutverlust und Wundbrand zu
siegen, vermeiden ließ sich weder das eine noch das andere,
alles war Glückssache. Er beschloß, er würde einer jener
Überlebenden sein. Er überlegte, daß seine wunderbare Cousine
Nivea einen ganzen Mann verdiente und keinen Krüppel, er
wollte nicht, daß sie ihn als Jämmerling sah, er würde ihr
Mitleid nicht ertragen können. Doch als er die Augen schloß,
erschien sie wieder neben ihm, er sah Nivea, unberührt von der
Grausamkeit des Krieges und der Gemeinheit der Welt, über ihn
gebeugt mit ihrem klugen Gesicht, ihren schwarzen Augen und
ihrem kecken Lächeln, und sein Stolz löste sich auf wie Salz in
Wasser. Er hatte nicht den geringsten Zweifel, daß sie ihn mit
einem halben Bein weniger genauso lieben werde wie früher. Da
nahm er mit steifen Fingern den Lö ffel, bemühte sich, das
Zittern zu unterdrücken, zwang sich, den Mund zu öffnen, und
schluckte einen Löffel voll von dem widerwärtigen Maisbrei,
der inzwischen kalt geworden und von Fliegen belagert war.
Die chilenischen Regimenter waren im Januar 1881 siegreich
in Lima eingezogen und bemühten sich von dort aus, Peru den
durch die Niederlage vorangetriebenen Friedensschluß
aufzuzwingen. Nachdem sich die wilde Konfusion der ersten
Wochen gelegt hatte, ließen die stolzen Sieger ein Kontingent
von zehntausend Mann zurück, um das besetzte Land
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