Portrat in Sepia
Sympathie entgegen. Sechs Tage in der
Woche, ohne jemals fortzubleiben, erschien die Lehrerin um
sieben Uhr früh im Haus meiner Großmutter, wo ich sie schon
erwartete, adrett und feingemacht, mit sauberen Fingernägeln
und frisch geflochtenen Zöpfen. Wir frühstückten in einem
kleinen Eßzimmer, wobei wir die wichtigsten Nachrichten aus
den Zeitungen besprachen, dann gab sie mir ein paar Stunden
regulären Unterricht, und für den Rest des Tages gingen wir ins
Museum oder in die Buchhandlung Siglo de Oro, wo wir Bücher
kauften und mit Don Pedro Tey, dem Buchhändler, Tee tranken,
wir besuchten Künstler, gingen hinaus, die Natur zu beobachten,
machten chemische Experimente, lasen Geschichten, schrieben
Gedichte und führten mit ausgeschnittenen Pappfiguren
klassische Theaterstücke auf. Sie war es, die meine Großmutter
auf den Gedanken brachte, einen Damenklub zu gründen, um
die Wohltätigkeit in vernünftige Bahnen zu lenken und, statt den
Armen getragene Kleider zu schenken oder das Essen, das in
den Küchen übriggeblieben war, einen Fonds zu gründen, ihn zu
verwalten wie eine Bank und den Frauen Anleihen zu gewähren,
damit sie sich beschaffen konnten, was sie für ein kleines
Geschäft brauchten: einen Hühnerstall, eine Werkstatt für
Näharbeiten, Waschtröge, um fremde Wäsche zu waschen,
einen Wagen für Transporte, kurz, was so nötig war, damit sie
aus der tiefen Armut herauskamen, in der sie mit ihren Kindern
lebten. Den Männern keine Anleihe, sagte Señorita Pineda, die
würden sich doch nur Wein dafür kaufen, außerdem hätten die
Sozialvorhaben der Regierung es übernommen, sie zu
unterstützen, wogegen sich keiner ernsthaft um die Frauen und
die Kinder kümmere. »Die Menschen wollen keine milden
Gaben, sie wollen sich ihren Lebensunterhalt mit Würde selbst
verdienen«, erklärte meine Lehrerin, und Paulina begriff das
sofort und stürzte sich in dieses Projekt mit der gleichen
Begeisterung, mit der sie die eher gierigen Pläne zum
Geldmachen verfolgte. »Mit der einen Hand greife ich mir,
soviel ich kann, und mit der anderen gebe ich, so schlage ich
zwei Fliegen mit einer Klappe, ich hab meinen Spaß und ich
verdien mir den Himmel«, sagte meine einzigartige Großmutter
und wollte sich ausschütten vor Lachen. Sie baute die Anregung
noch weiter aus und bildete nicht nur den Klub der Damen, den
sie mit ihrer gewohnten Tüchtigkeit leitete - wovor die anderen
Damen sich graulten
-, sie finanzierte auch Schulen und
ambulante Arztpraxen und erfand eine Methode, nach der das,
was auf den Marktständen und in den Bäckereien nicht verkauft
worden, aber noch in gutem Zustand war, an Waisenhäuser und
Asyle verteilt wurde.
Wenn Nivea zu Besuch kam, immer schwanger und mit
mehreren Söhnen und Töchtern auf den Armen der
verschiedenen Kindermädchen, ließ
Señorita Pineda die
Schiefertafel im Stich, und während die Betreuerinnen sich um
das Kinderrudel kümmerten, tranken wir Tee, und die beiden
widmeten sich der Aufgabe, eine gerechtere und bessere
Gesellschaft zu entwerfen. Obwohl Nivea weder genügend Zeit
noch genügend Mittel hatte, war sie die jüngste und aktivste der
Damen im Klub meiner Großmutter. Manchmal gingen wir ihre
einstige Lehrerin Schwester Maria Escapulario besuchen, die ein
Heim für alte Nonnen leitete, weil ihr nicht mehr gestattet war,
ihren leidenschaftlich geliebten Beruf der Erzieherin auszuüben;
die Kongregation hatte entschieden, daß ihre fortschrittlichen
Ideen für Schülerinnen nicht empfehlenswert seien und daß sie
weniger Schaden anrichte, wenn sie schwachköpfige alte
Weiber pflegte, statt Rebellion in kindliche Gemüter zu säen.
Schwester Maria Escapulario bewohnte eine kleine Zelle in
einem baufälligen Haus, zu dem jedoch ein verzauberter Garten
gehörte, wo sie uns immer dankbar empfing, denn sie liebte
geistig anregende Unterhaltung, ein in diesem Asyl
unerreichbares Vergnügen. Wir brachten ihr Bücher mit, um die
sie uns bat und die wir in der staubigen Buchhandlung Siglo de
Oro kauften. Wir hatten auch immer Kuchen dabei oder eine
Torte zum Tee, den sie auf einem Paraffinofen zubereitete und
in schartigen Tassen anbot. Im Winter blieben wir in der Zelle,
die Nonne auf dem einzigen verfügbaren Stuhl sitzend, Nivea
und Señorita Pineda auf der Pritsche und ich auf dem Fußboden,
aber wenn das Wetter es erlaubte, spazierten wir durch den
wunderbaren Garten mit seinen hundertjährigen Bäumen, den
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