Portrat in Sepia
einen goldenen, die nur bei großen Gelegenheiten benutzt
wurden, und ein wunderbarer Wintergarten, wo sich das
Familienleben zwischen Blumentöpfen aus chinesischem
Steingut, Farnwedeln und Käfigen für Kanarienvögel abspielte.
Im Hauptspeisezimmer gab es ein pompejanisches Fresko, das
rundherum über alle vier Wände ging, verschiedene Kredenzen
und Anrichten mit einer ganzen Kollektion von Porzellan und
Silberbestecken, einen Lüster mit kristallenen Tränen und ein
breites Fensterband, verziert mit dem Mosaik eines maurischen
Brunnens, der unentwegt Wasser spie. Da meine Großmutter
nun darauf verzichtet hatte, mich in die Schule zu schicken, und
der Unterricht bei Señorita Pineda zur Gewohnheit wurde, war
ich sehr glücklich. Jedesmal wenn ich eine Frage stellte, zeigte
mir diese großartige Lehrerin den Weg, die Antwort selbst zu
finden. Sie lehrte mich, die Gedanken zu ordnen, zu forschen, zu
lesen und zu lauschen, Alternativen zu suchen, alte Probleme
mit neuen Lösungen zu klären, logisch zu diskutieren. Vor allem
lehrte sie mich, nicht blind zu glauben, sondern zu zweifeln und
zu fragen, auch das in Frage zu stellen, was unumstößliche
Wahrheit zu sein schien wie etwa die Überlegenheit des Mannes
gegenüber der Frau oder einer Rasse oder Gesellschaftsklasse
gegenüber einer anderen, neuartige Gedanken in einem
patriarchalischen Land, wo die Indios nie auch nur erwähnt
wurden und wo es genügte, eine Sprosse auf der Leiter der
sozialen Klassen abzusteigen, und man war aus dem
allgemeinen Gedächtnis getilgt. Sie war die erste intellektuelle
Frau, die mir in meinem Leben begegnete. Nivea konnte sich bei
all ihrer Klugheit und Bildung nicht mit meiner Lehrerin
messen, die sich durch Einfühlungsvermögen und die ungeheure
Großzügigkeit ihrer Seele auszeichnete, ihrer Zeit um ein halbes
Jahrhundert voraus war, aber niemals die Intellektuelle
herauskehrte, nicht einmal auf den berühmten
Abendgesellschaften meiner Großmutter, wo sie mit ihren
leidenschaftlichen Reden für das Frauenstimmrecht und ihren
theologischen Zweifeln hervortrat. Vom Aussehen her konnte
Senorita Pineda nur Chilenin sein, dieser Mischung aus
Spanierin und India angehören, die kleine, breithüftige Frauen
hervorbringt mit dunklen Augen und Haaren, hohen
Wangenknochen und einem schweren Gang, als hafteten sie an
der Erde. Ihr Verstand war ungewöhnlich für ihre Zeit und ihren
Stand, sie kam aus einer tüchtigen Familie im Süden, ihr Vater
arbeitete als Eisenbahnangestellter, und von acht Geschwistern
war sie die einzige, die ihr Studium beenden konnte. Sie war
eine Schülerin und Freundin von Don Pedro Tey, dem Besitzer
der Buchhandlung Siglo de Oro, einem Katalanen von
mürrischem Wesen, aber mit einem weichen Herzen, der ihre
Lektüre lenkte und ihr Bücher lieh oder schenkte, denn sie
konnte sie nicht kaufen. Bei jedem Meinungsaustausch, so banal
er auch sein mochte, widersprach er ihr. Ich hörte ihn zum
Beispiel behaupten, die Südamerikaner seien Affen mit einer
Neigung zur Vergeudung, zum Herumtreiben und zur Faulheit,
aber kaum hatte Señorita Pineda zugestimmt, als er auch schon
die Seiten wechselte und hinzufügte, wenigstens seien sie besser
als seine eigenen Landsleute, die ständig gekränkt herumliefen
und sich bei jeder Kleinigkeit duellierten. Obwohl es ihnen
unmöglich war, bei irgendeiner Sache einer Meinung zu sein,
kamen die beiden sehr gut miteinander aus. Don Pedro Tey muß
mindestens zwanzig Jahre älter gewesen sein als meine
Lehrerin, aber wenn sie anfingen zu reden, verflog der
Altersunterschied: er verjüngte sich vor Begeisterung, und sie
gewann an Reife. Severo und Nivea hatten in zehn Jahren sechs
Kinder bekommen und vermehrten sich immer noch weiter, bis
es ganze fünfzehn waren. Ich kenne Nivea seit über zwanzig
Jahren und habe sie immer mit einem Baby auf dem Arm
gesehen; ihre Fruchtbarkeit wäre ein Fluch, wenn sie nicht
soviel Freude an den Kindern hätte. »Ich würde sonstwas dafür
geben, wenn Sie meine Kinder unterrichteten!« seufzte sie,
wenn sie mit Señorita Pineda zusammentraf. »Es sind zu viele,
und ich habe mit Aurora alle Hände voll zu tun«, erwiderte
meine Lehrerin. Severo war ein erfolgreicher Rechtsanwalt
geworden, einer der jüngsten Pfeiler der Gesellschaft und ein
angesehenes Mitglied der liberalen Partei. Er war in vielen
Punkten mit der Politik des ebenfalls liberalen Präsidenten nicht
einverstanden, und da er es nicht
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