Portrat in Sepia
ihren Heimen, wo sie in den Ferien
wie Prinzessinnen gehätschelt wurden, muß so ungeheuer
gewesen sein, daß er sie völlig verdreht machte. Ich konnte es
nicht ertragen. Einmal konnte ich einen Gärtner zum Komplizen
gewinnen, über das Gitter springen und fliehen. Ich weiß nicht,
wie ich in die Straße Ejército Libertador gelangte, wo Caramelo
mich fast überschnappend vor Freude empfing, aber Paulina fast
einen Herzschlag bekam, als sie mich in meinem verdreckten
Kleid und mit verquollenen Augen auf sich zukommen sah. Ich
blieb ein paar Monate zu Hause, bis der Druck von außen meine
Großmutter zwang, das Experiment zu wiederholen. Beim
zweiten Mal versteckte ich mich unter Büschen im Hof, wo ich
die ganze Nacht lang saß und mir vorstellte, wie ich an Kälte
und Hunger zugrunde gehen würde. Ich stellte mir die Gesichter
der Nonnen und meiner Familie vor, wenn sie meine Leiche
entdeckten, und weinte vor Mitleid mit mir selbst - arme kleine
Märtyrerin, und noch so jung! Am Morgen darauf
benachrichtigte die Schule Paulina von meinem Verschwinden,
und die kam an wie Blitz und Donner, um Erklärungen zu
fordern. Während sie und Frederick von einer rotwangigen
Novizin in das Büro der Mutter Oberin geführt wurden, schlich
ich mich von dem Gestrüpp, hinter dem ich mich versteckt hatte,
zu dem Wagen, der im Hof wartete, kletterte in die Kutsche,
ohne daß der Kutscher mich bemerkte, und kroch unter den Sitz.
Frederick Williams, der Kutscher und die Mutter Oberin mußten
meiner Großmutter beim Einsteigen helfen, die schimpfte und
kreischte, wenn ich nicht bald auftauchte, dann würden sie
schon sehen, wer Paulina del Valle war! Als ich, kurz bevor wir
zu Hause ankamen, aus meinem Unterschlupf hervorkrabbelte,
vergaß sie ihr untröstliches Weinen, packte mich im Genick und
verabreichte mir eine Tracht Prügel, bis es Onkel Frederick
gelang, sie zu beruhigen. Aber Züchtigung war nicht die starke
Seite der guten Frau, als sie hörte, daß ich seit dem Tag zuvor
nichts gegessen und die Nacht im Freien zugebracht hatte,
bedeckte sie mich mit Küssen und nahm mich mit zum Eisessen.
In der dritten Anstalt, in der sie mich anmelden wollte, schickten
sie mich ohne Umstände sofort wieder weg, weil ich beim ersten
Gespräch mit der Vorsteherin behauptete, ich hätte den Teufel
gesehen und er hätte grüne Pfoten. Schließlich gab meine
Großmutter sich geschlagen. Severo del Valle hatte sie
überzeugt, daß es keinen Grund gebe, mich so zu quälen, ich
könne doch ebensogut alles Notwendige zu Hause von
Privatlehrern beigebracht bekommen. Durch meine Kindheit zog
nun eine Reihe von englischen, französischen und deutschen
Gouvernanten, die eine nach der anderen dem verunreinigten
chilenischen Wasser und Paulinas Wutanfällen unterlagen; die
unglücklichen Frauen kehrten mit chronischer Diarrhöe und
schlechten Erinnerungen in ihre Heimatländer zurück. Meine
Erziehung verlief einigermaßen holperig, bis eine
außergewöhnliche chilenische Lehrerin in mein Leben trat,
Señorita Matilde Pineda, die mich fast alles Wichtige lehrte, das
ich weiß, abgesehen von gesundem Menschenverstand, weil sie
den selber nicht hatte. Sie war leidenschaftlich und idealistisch,
schrieb philosophische Gedichte, die sie nie veröffentlichen
konnte, litt an unersättlichem Wissenshunger und war von jener
Unduldsamkeit gegenüber den Schwächen anderer, wie sie allzu
intelligenten Menschen eigen ist. Sie konnte Faulheit nicht
ausstehen; das Wort »ich kann nicht« war in ihrer Gegenwart
verboten. Meine Großmutter hatte sie engagiert, weil sie sich als
Agnostikerin, Sozialistin und Anhängerin der
Frauenwahlrechtsbewegung vorstellte, drei Gründe, die mehr als
ausreichten, damit sie an keiner Lehranstalt beschäftigt wurde.
»Wollen sehen, ob Sie der konservativen und patriarchalischen
Scheinheiligkeit dieser Familie ein wenig entgegenwirken
können«, sagte Paulina beim Einstellungsgespräch zu ihr,
unterstützt von Frederick Williams und Severo del Valle, den
einzigen, die das Talent der
Señorita Pineda spürten, alle
übrigen versicherten, diese Frau werde das Monstrum
herausfüttern, das sich schon in mir regte. Die Tanten ordneten
sie sofort als »hochgekommene Schlampe« ein und warnten
meine Großmutter vor dieser Frau aus niederer Klasse, »die sich
den besseren Leuten aufdrängt«, wie sie sagten. Williams
dagegen, der klassenbewußteste Mensch, den ich je gekannt
habe, brachte ihr
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