Portrat in Sepia
Hauptstadt mit den gleichen
Gepäckmassen, die wir vor Wochen aufge laden hatten, plus
zwei Neugeborenen und ohne die Vögel, die unterwegs vor
Angst gestorben waren. Wir nahmen mehrere Körbe mit
Lebensmitteln mit uns sowie einen Tonkrug mit dem Gebräu,
das Nivea trinken mußte, um einer Anämie vorzubeugen - eine
widerliche Mischung aus abgelagertem Wein und frischem
Jungstierblut. Nivea hatte monatelang nichts von ihrem Mann
gehört, und wie sie uns in einem Augenblick der Schwäche
gestand, begann sie Depressionen zu bekommen. Sie hatte nie
daran gezweifelt, daß Severo heil und gesund aus dem Krieg zu
ihr zurückkehren werde, sie hat so etwas wie Hellsichtigkeit, ihr
eigenes Schicksal zu sehen. So wie sie immer wußte, daß sie
seine Frau werden würde, selbst als er ihr mitteilte, daß er in San
Francisco eine andere geheiratet hatte, so weiß sie auch, daß sie
beide gemeinsam bei einem Unfall sterben werden. Ich habe es
sie viele Male sagen hören, der Satz ist in der Familie
nachgerade ein Witz geworden. Sie fürchtete sich davor, auf
dem Lande zu bleiben, weil es dann für ihren Mann sehr
schwierig sein würde, sich mit ihr in Verbindung zu setzen,
zumal in dem Durcheinander der Revolution die Post leicht
verlorenging, vor allem in den ländlichen Gebieten.
Seit Beginn ihrer Ehe mit Severo, als ihre unerschöpfliche
Fruchtbarkeit offensichtlich wurde, hatte Nivea begriffen, daß,
wenn sie die üblichen Normen der Wohlanständigkeit einhielte
und sich bei jeder Schwangerschaft und nach jeder Entbindung
zu Hause einschlösse, sie den Rest ihres Lebens eingesperrt
bleiben würde, also entschied sie, daß sie kein Geheimnis aus
der Mutterschaft machen wolle, und so wie sie mit
vorstehendem Bauch wie eine ungenierte Bäuerin
daherstolzierte zum Entsetzen der »guten« Gesellschaft, so
gebar sie auch ohne großes Getue, verbrachte danach nur drei
Tage in der Verbannung
- statt der vierzehn, die der Arzt
vorschrieb - und ging, wohin es ihr paßte, einschließlich der
Treffen der Frauenrechtlerinnen, mit ihrem Gefolge von
Kindern und Kindermädchen. Letztere waren junge Mädchen,
die auf dem Lande angeworben wurden und dazu bestimmt
waren, ein Leben lang zu dienen, sofern sie nicht schwanger
wurden oder heirateten, was wenig wahrscheinlich war. Diese
selbstlosen Mädchen wuchsen, vertrockneten und starben im
Haus, schliefen in schmuddligen Stuben ohne Fenster und aßen,
was vom herrschaftlichen Tisch wieder herauskam; sie beteten
die Kinder an, die sie aufziehen sollten, vor allem die Jungen,
und wenn die Töchter der Familie heirateten, nahmen sie sie mit
als Teil der Aussteuer, damit sie der zweiten Generation weiter
dienten. In einer Zeit, in der alles, was mit Mutterschaft zu tun
hatte, schön im dunkeln blieb, belehrte mich das
Zusammenleben mit Nivea als Elfjährige über Dinge, die kein
Mädchen in meinem Umfeld kannte. Auf dem Lande mußten die
Kindermädchen uns bei geschlossenen Fensterläden im Hause
halten, wenn die Tiere sich paarten oder ihren Nachwuchs zur
Welt brachten, denn man ging von der Vorstellung aus, daß
diese Vorgänge unsere empfindsamen Seelen belasten und uns
perverse Gedanken in den Kopf setzen würden. Das war
durchaus richtig, denn das wollüstige Schauspiel, wenn ein
feuriger Hengst eine Stute besteigt, was ich zufällig auf dem Gut
mit ansah, geht mir immer noch ins Blut. Heute, im Jahre 1910,
wo der Altersunterschied von zwanzig Jahren hingeschwunden
und sie mehr meine Freundin als meine Tante ist, hat sie mir
erzählt, daß die jährlichen Schwangerschaften nie ein
ernstzunehmendes Hindernis für sie waren; schwanger oder
nicht, sie trieb ihre von jeder Scham freien Kapriolen mit ihrem
Mann. Bei einem dieser vertraulichen Gespräche fragte ich sie,
warum sie so viele Kinder hatte - fünfzehn, von denen elf am
Leben sind -, und sie antwortete, sie habe es nicht vermeiden
können, keines von den weisen Mittelchen der französischen
Hebammen habe bei ihr gewirkt. Gegen den ungeheuren
Verschleiß halfen ihr eine nicht kleinzukriegende Körperkraft
und ein leichtes Herz, das sich nicht in sentimentalem Gestrüpp
verstrickte. Sie zog ihre Kinder nach derselben Methode auf,
nach der sie ihre häuslichen Angelegenheiten regelte: sie
delegierte. Kaum hatte sie geboren, umwickelte sie sich straff
die Brüste und übergab den Säugling einer Amme; in ihrem
Haus gab es fast so viele Kindermädchen wie Kinder. Die
Leichtigkeit, mit der
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