Portrat in Sepia
Aus lauter Angst, als Nahrung für einen imbunche zu
enden, steckten die Kinder nach Sonnenuntergang die Nase
nicht mehr aus dem Haus, und einige, darunter auch ich,
schliefen mit dem Kopf unter den Decken, von haarsträubenden
Albträumen gequält. »Wie kannst du nur so abergläubisch sein,
Aurora! Den imbunche gibt es nicht. Denkst du, irgendein
Neugeborenes könnte solche Torturen überleben?« sagte meine
Großmutter und versuchte vernünftig mit mir zu reden, aber es
gab kein Argument, das mich vom Zähneklappern befreien
konnte.
Da sie ihr Leben schwanger verbrachte, kümmerte Nivea sich
wenig darum, große Berechnungen anzustellen, und schätzte das
Nahen der Niederkunft nach der Häufigkeit, mit der sie das
Nachtgeschirr benutzen mußte. Als sie in zwei
aufeinanderfolgenden Nächten dreimal herausmußte, kündigte
sie uns zur Frühstückszeit an, daß es Zeit sei, einen Arzt zu
rufen, und tatsächlich begannen noch am selben Tag die Wehen.
Weil es in dieser Gegend aber keine Ärzte gab, schlug jemand
vor, die Amme aus dem nächsten Dorf zu holen, die, wie sich
herausstellte, eine meica war, eine alterslose MapucheIndianerin und ganz und gar braun: Haut, Zöpfe, sogar die
Kleider, die mit Pflanzenauszügen gefärbt waren. Sie kam zu
Pferde, mit einer Tasche voller Pflanzen, Ölen und
medizinischen Säften, und trug einen Umhang, der vor der Brust
von einer riesigen, aus alten Kolonialmünzen angefertigten
Brosche zusammengehalten wurde. Die Tanten waren entsetzt,
diese Meica schien gerade erst aus dem tiefsten Araukanien
gekommen zu sein, aber Nivea empfing sie ohne Anze ichen von
Zweifel oder Mißtrauen; Angst vor lebensgefährlichen
Augenblicken schreckte sie nicht, sie hatte das ja schon
sechsmal durchgemacht. Die India sprach sehr wenig Spanisch,
aber sie schien ihre Sache zu verstehen, und als sie ihren
Umhang abgelegt hatte, konnten wir sehen, daß sie sauber war.
Aus Tradition betrat keine Frau, die nicht schwanger gewesen
war, das Zimmer der Gebärenden, so daß die jungen Frauen mit
den Kindern ans andere Ende des Hauses gingen und die
Männer sich im Billardsaal zusammenfanden, um zu spielen, zu
trinken und zu rauchen. Nivea wurde in das Hauptzimmer
gebracht, begleitet von der India und einigen älteren Frauen der
Familie, die sich beim Beten und Helfen ablösten. Sie kochten
zwei schwarze Hühner für eine gehaltvolle Brühe, die der
Mutter vor und während der Geburt Kraft geben sollte, sie
brühten auch Borretsch auf, falls sich Atemknappheit oder
Herzschwäche einstellen sollten. Meine Neugier war stärker als
die Drohung meiner Großmutter, mir eine Tracht Prügel zu
verpassen, falls sie mich in Niveas Nähe ertappte, und ich
entwischte in die hinteren Zimmer, um zu beobachten. Ich sah
die Dienstmädchen mit weißen Tüchern und Waschschüsseln
voll heißem Wasser und Kamillentinktur, um den Leib zu
massieren, auch mit Decken und Kohle für die Becken, denn
nichts war so sehr gefürchtet wie der Eisbauch oder das
Kaltwerden während der Geburt. Ich hörte ständig Unterhaltung
und Gelächter und konnte mir nicht vorstellen, daß hinter der
Tür Angst oder Leiden herrschten, ganz im Gegenteil, es klang
nach höchst vergnügtem Frauenklatsch. Weil ich von meinem
Versteck aus nichts sehen konnte und von dem geisterhaften
Hauch in den dunklen Gängen sich mir die Nackenhaare
sträubten, hatte ich bald genug und lief fort, um mit den anderen
Kindern zu spielen, aber als es Abend wurde und die Familie
sich in der Kapelle versammelt hatte, ging ich wieder zu
meinem Horchposten. Inzwischen hatten die Gespräche
aufgehört und man vernahm deutlich Niveas angestrengtes
Stöhnen, das Murmeln von Gebeten und den Regen, der auf die
Dachziegel pladderte. Ich machte mich ganz klein in meinem
Gangwinkel und zitterte vor Angst, weil ich mir deutlich
vorstellte, daß die Indios kommen und Niveas Baby rauben
könnten…, und wenn nun die Meica eine von jenen Hexen war,
die aus den Neugeborenen imbunches machten? Wieso hatte
Nivea nicht an diese grausige Möglichkeit gedacht? Ich war
schon drauf und dran, zurück in die Kapelle zu rennen, wo Licht
und Menschen waren, aber in diesem Augenblick kam eine der
Frauen aus dem Zimmer, um etwas zu holen, und ließ die Tür
halb offen, und ich konnte halbwegs erkennen, was da drinnen
vor sich ging. Mich sah niemand, weil es auf dem Gang finster
war, im Zimmer dagegen herrschte die Helligkeit von zwei
Talglampen und überall
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