PR 2702 – Das positronische Phantom
Februar.
Sie nahmen nicht so ihren Anfang, wie die politischen Beobachter es im Vorfeld prognostiziert hatten: Terranische Attentäter töteten nicht etwa Onryonen, sondern andere Terraner. Die Nachricht verbreitete sich scheinbar mit Überlichtgeschwindigkeit.
Der erste Mensch starb, als ihm ein Strahlerschuss in den Kopf drang, genau vier Minuten nachdem Antonin Sipiera die Räumung der Luna Towns I bis VI befohlen hatte.
Der Gegenschlag ließ nicht lange auf sich warten. Das Sicherheitspersonal ging hart gegen die Rebellen vor. Gegen die Attentäter. Gegen die subversiven Elemente aus dem Untergrund.
Und bald vermochte niemand mehr zu sagen, wo die Fronten verliefen.
Terraner gegen Terraner, Terraner gegen Onryonen, Onryonen gegen Terraner. Nur eines gab es nie: Kein Onryone erhob die Hand gegen einen aus dem eigenen Volk.
Offiziell blieb es bei der laut Antonin Sipiera berechtigten und nüchternen Forderung der Onryonen, die Luna Towns zu räumen, weil die bevorstehende letzte Bauphase des Reportals eine Ausnutzung sämtlicher technischer Kapazitäten notwendig mache. Der Platz in den Städten werde gebraucht, um den Mond endlich zurück in die Heimat zu bringen.
Inoffiziell glaubte kaum noch jemand daran, und die Kämpfe weiteten sich aus, während das Techno-Rhizom wuchs und wuchs und wuchs. Pri Sipiera nannte es ein Geschwür, und bald redeten alle von der Krankheit, die man bekämpfen müsse.
So breitete sich der Tod auf Luna aus, und viele Gegenden wurden stumm: Niemand lebte dort, und das Metallgeflecht schob sich voran, formte den Mond zu etwas Neuem.
Am 12. August 1542, mehr als zwei Jahre nach Beginn der Kämpfe, fielen in Luna Town V Bomben, die die halbe Stadt zerstörten. Roboter waren tagelang damit beschäftigt, die Leichen wegzuschaffen.
Pri sah es im Trivid und wusste, dass nun das Ende begann. In diesem Augenblick fällte sie die Entscheidung, die sie schon lange vor sich herschob.
Ihr Elternhaus zu verlassen, in dem sie seit dem Tag von Golos kurzzeitiger Rückkehr allein mit ihrer Mutter lebte, stellte nur den ersten Schritt auf ihrem Weg dar. Den zweiten zögerte sie fast für ein halbes Jahr hinaus, bis zu dem Zeitpunkt, an dem das letzte terranische Schiff in den Schacht floh, ehe es von den Onryonen zerstört wurde; einem ungewissen Schicksal entgegen.
Zu Anfang des Jahres 1544, als alle Lunarer nur noch an einem einzigen Ort leben durften, nämlich in Luna City, stand für Pri Sipiera fest, dass sie es dort nicht mehr aushalten konnte.
In diesem ... Lager.
Dem großen Mondgefängnis.
»Es ist eine Frage des Standpunkts«, sagte ihre Mutter, als sie sie zum letzten Mal sah. »Ich sehe es als Zuflucht.«
»Du bist schwach geworden, Mama«, erwiderte Pri. »Ich liebe dich, aber du bist schwach.«
Tameas Augen glitzerten. »Wenn es Schwäche ist, in Frieden leben zu wollen, bin ich schwach. Ich habe genug gekämpft.«
»Ich wünsche dir diesen Frieden, auch wenn ich ihn nicht finden kann, solange die Onryonen uns hier internieren.« Sie küsste ihre Mutter und ging in ihre Wohnung.
Irgendwann während der Kämpfe war sie dreißig Jahre alt geworden; ein Tag wie jeder andere.
Wie lange lag er schon zurück? Sie wusste es nicht einmal.
Sie ließ sich auf ihr Bett fallen, und Loolon tappte heran. Er summte, und sie genoss es; es war ihr völlig egal, dass sie viel zu alt war für diesen Streichelzwerg, dieses letzte Relikt aus ihrer Kindheit.
Sie hörte zu, doch sie konnte nicht schlafen.
Natürlich nicht.
Sie wollte schreien, und sie tat es auch. »Hör auf zu summen!«, herrschte sie Loolon an. »Ich will es nicht!«
»Was willst du denn?«, fragte der Summzwerg, und er klang überraschter, als es eine kleine Robotmaschine eigentlich sein konnte. Pri hatte den Zwerg niemals völlig verstanden.
»Ich will in den Untergrund«, sagte Pri, und es kam aus ihrem tiefsten Herzen. Es erstaunte sie selbst, diese Worte aus ihrem Mund zu hören. »Golo hatte recht, die ganze Zeit über.«
Loolon richtete sich zu seiner vollen Größe auf, reckte die übergroßen Streichelhände in die Höhe, als wolle er jubilieren und tanzen. »Darauf habe ich viel zu lange gewartet. Endlich kann ich meinen Zweck erfüllen. Komm mit!«
Der Zwerg hüpfte vom Bett und führte Pri in den Untergrund, vorbei an den technischen Wucherungen des Geschwürs, die alle Subetagen durchdrangen und sich fort und fort fraßen.
1568 NGZ (Lunare Zeit)
Golo Sipiera sah müde aus; genau so, wie sie
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