PR NEO 0045 – Mutanten in Not
ihr Tempo zu drosseln, musterte sie ihn einige Atemzüge lang, dann schüttelte sie den Kopf. »Keine Veränderung.«
»Dann kann ich's nicht.«
Caroline biss sich auf die Unterlippe. Das hatte ihr gerade noch gefehlt.
In einer Waldlichtung etwa hundert Meter nördlich des Gotischen Hauses tänzelte ein weißes Pferd auf immer derselben Stelle, wobei es gelegentlich nur auf den Hinterbeinen sprang. Courbette hieß diese Figur in der Reitkunst, wenn Caroline sich richtig erinnerte.
Beim Näherkommen erkannte sie, dass es sich um eine Holografie handelte. Klassische Musik erklang aus verborgenen Lautsprechern. Eine scheinbar in der Luft schwebende, ebenfalls holografische Tafel zeigte die Aufschrift: Landgraf Friedrich der Fünfte von Hessen-Homburg, ein Freund und Förderer von Künstlern wie Goethe, Klopstock und Hölderlin, ließ an diesem Platz sein Lieblingspferd Madjar in Ehren bestatten und widmete ihm die Zeilen: »Hier liegt das schönste Pferd begraben, das alle Tugenden vereint. / Könnt man mit Thieren Freundschaft haben, so läge hier mein Freund.«
»Was habt ihr bloß immer mit Pferden?«, stichelte Lekoche. »Hässliche, unnütze Viecher. Rinder, die bringen Reichtum und Wohlergehen!«
Caroline ging nicht auf das Geplänkel ein. Sie fühlte sich nicht in der Stimmung dazu. Den Schnupfen schien sie überstanden zu haben, aber die Schmerzen hinter der Nasenwurzel wollten nicht weichen. Da sie noch nie unter Migräne gelitten hatte, fürchtete sie, sich eine Stirnhöhleneiterung eingefangen zu haben.
Vom Kiesweg, der eine Sichtachse vom Schlösschen zu einer Schneise bildete, die sich zu einem weiteren Parkgelände öffnete, bog sie in den Tannenwald ab. Sie spürte, dass sie fast am Ziel war.
Neben einer Futterkrippe für Tiere lagen reglos die beiden Körper. Sie boten ein Bild des Friedens. Die Frau hielt das Kind im Arm, als hätten sie nur für ein kurzes Nachmittagsschläfchen die Augen geschlossen. Aber sie waren tot und Wiederbelebungsversuche zwecklos.
Kathrin Hornfelder hatte rostrote Locken, Sommersprossen und ein ebenmäßiges Gesicht mit einem aparten Muttermal auf der linken Wange: unübersehbar eine Schönheit, die viele Männerherzen hatte höher schlagen lassen. Der Junge ähnelte ihr kaum, dafür jemand anderem umso mehr. Die kohlschwarzen Haare, das kantige Kinn, die markanten Backenknochen ...
»Sein Sohn«, stieß Caroline hervor, schockiert bis ins Mark. »André Noir hat seinen eigenen Sohn ermordet und dessen Mutter dazu.«
»Wie konnte er nur?«, fragte Lekoche später, in einem geschmacklos eingerichteten Bistro am Flughafen, zum wiederholten Male. »Warum macht jemand so etwas?«
»Ich weiß es nicht.«
»Das ist sehr, sehr übel.«
»Ja.« Carolines Einsilbigkeit hatte einen Grund.
Sie erwog ernstlich, den jungen Massai zurück nach Terrania zu schicken. Seine Parafähigkeit schlug Kapriolen, die er nicht im Mindesten beeinflussen konnte. Manchmal flackerte er, oder er changierte zwischen einer schwarzweißen Silhouette und seiner vollen Körperlichkeit hin und her. Über Gebühr Aufsehen erregte er trotzdem nicht. Seine Unsichtbarkeit basierte ja darauf, dass gleichsam das Kurzzeitgedächtnis der Betrachter gelöscht wurde. Aber immer öfter starrte jemand zu ihnen herüber, nur um sich gleich danach die Augen zu reiben und irritiert weiterzugehen.
In dieser Form war Lekoche keine Hilfe, sondern drohte sich vielmehr zu einem veritablen Klotz am Bein zu entwickeln. Andererseits hatte Caroline Verantwortung für ihn übernommen. Nein, sein unberechenbarer Zustand verbot, ihn allein auf die Reise gehen zu lassen.
Mist! Mist, Mist, Doppelmist!
Sie hatte die Frankfurter Polizei von ihrem grausigen Fund in Kenntnis gesetzt; anonym via Textnachricht von einer Touristeninfosäule aus, da sie sich keine zeitraubenden Verhöre einhandeln wollte. Die Leichen hatten auf einer Decke gelegen, daneben ein Picknickkorb, das zugehörige Besteck und Plastikteller mit Essensresten. Caroline hegte keine Zweifel, dass man eine Lebensmittelvergiftung feststellen und letztlich wieder einmal Fremdverschulden ausschließen würde.
Warum?, echote es in ihren Gedanken. Warum macht jemand so etwas?
Noch eine andere Frage quälte sie. Spontan hatte sie die sterblichen Überreste von Kathrin und Nelson Hornfelder berührt, ohne Rücksicht auf Fingerabdrücke oder DNS-Reste, um die Fährte ihres Mörders wieder aufzunehmen. Wenn ihn mit diesen beiden unschuldigen Opfern keine
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