PR Odyssee 05 - Das strahlende Imperium
Zeitreisen ist schon alt, aber ihre fiktionale Realisierung im pseudotechnischen Gewand kam erst mit der zunehmenden Verwissenschaftlichung und Technisierung der Lebenswelt.
In seinem 1771 anonym publizierten Buch Das Jahr 2440 schuf Louis-Sébastien Mercier das Grundmuster vieler Zeitreise-Geschichten der kommenden Dekaden: Ein Mann schläft ein und wird in einer anderen Zeit wieder wach. Ähnliches geschah dann beispielsweise auch in Washington Irvings Rip Van Winkle (1819) oder Edward Bellamys Ein Rückblick aus dem Jahr 2000 auf das Jahr 1887 (Looking Backward 2000 - 1887) von 1888, worin ein Bostoner Bürger im schalldichten Gewölbe einschläft und 100 Jahre später in einer utopischen sozialistischen Gesellschaft wieder aufwacht. Andere Erzählungen ersetzten die Schlaf-Transition durch Drogen, Zaubersprüche, Blitz und Donner - was in Lyon Sprague de Camps Vorgriff auf die Vergangenheit (Lest Darkness Fall, 1939/1941) eine Reise ins antike Rom bewirkt - oder einen kräftigen Schlag auf den Kopf - mit dem Mark Twain seinen Protagonisten in Ein Yankee aus Connecticut an König Artus’ Hof (A Connecticut Yankee In King Arthur’s Court, 1889) ins mittelalterliche Leben transferiert.
H. G. Wells setzte stattdessen in seiner Erzählung The Chronic Argonauts (1888) diese simplen Methoden durch ein - freilich nicht minder mysteriöses - technisches Vehikel. Die Zeitmaschine wurde geboren, und die Zeitreisen waren nicht länger Einbahnstraßen oder schicksalhafte Fügungen, sondern dem Erkundungswillen des Reisenden unterworfen. (Tatsächlich veröffentlichte Edward Page Mitchell, ein Redakteur der New York Sun, schon einige Jahre vorher, 1881, mit The Clock That Went Backward die erste Geschichte über einen Apparat für Zeitreisen, die aber weitgehend unbeachtet blieb.) Dennoch stand diese Fiktivtechnologie im Nachfolgeroman Die Zeitmaschine (The Time Machine, 1895) zunächst noch lange ohne literarische Nachfolger.
Erst mit der Entstehung der Science-Fiction-Magazine explodierte das Genre. Immer raffiniertere, vertracktere Zeitreise-Geschichten entstanden - ihre Zahl geht vermutlich in die Tausende. Und ihr Niveau ist im Durchschnitt höher, intelligenter als in den oft stereotypen SF-Räuberpistolen mit den zuweilen peinlichen Allmachtsphantasien. »Nicht so in den Zeitreisegeschichten«, schreibt der SF-Kenner und -Herausgeber Karl Michael Armer. »Da agiert der Held nicht, sondern reagiert nur. Er wird in einen Dimensionsstrudel saltoschlagender Logik gerissen, strampelt darin herum, ist immer mehr Opfer als Beherrscher der Zeit. Entfremdung, Entwurzelung in einer zusehends unbegreiflicher werdenden Welt, Herumgestoßenwerden von Kräften, die man nicht beeinflussen kann - diese zentralen Themen der späteren Science Fiction ab Mitte der 60er Jahre tauchen schon in den ganz frühen Time Travel Stories auf. Die Zeitreisegeschichten waren (wen wundert’s) dem Rest der SF um Jahrzehnte voraus.«
Armer hat vier Motive unterschieden, die den spezifischen Reiz dieses Literaturzweigs ausmachen:
• Wir sind alle Zeitreisende: Im Waggon namens Gegenwart fahren wir unsere Strecke zwischen Geburt und Tod ab und zahlen den unerbittlichen Preis des Alterns.
• Die Natur der Zeit: Ist sie ein offenes oder geschlossenes System, das heißt ist alle Entwicklung schon fixiert seit frühester Zeit oder Ewigkeit bis in die fernste Zukunft - oder ist die Zeitachse wie eine Straße, die nur bis zur Gegenwart reicht und immer weiter gebaut wird, und zwar womöglich in ganz unbestimmte Richtungen? Hinter dieser Frage lauert das Problem der ominösen Willensfreiheit - aber auch die kontroverse Psi-Thematik um Hellsehen, Vorahnungen, Weissagungen.
• Das intellektuelle Vergnügen der mit Zeitreisen ein-hergehenden Möglichkeit von Paradoxien, alternativen Vergangenheiten und utopischen oder dystopischen Zukünften so wie ein Sprengen der Fesseln starrer Kausalprinzipien.
• Der erzählerische Kniff, Vergangenheiten oder Zukünfte mit einem Menschen der Gegenwart auszuloten oder zu kontrastieren, mit dem wir uns besser identifizieren können.
Im Reigen der Zeiten
In unserem Alltagsvorurteil glauben wir, die Vergangenheit sei fixiert und die Zukunft nicht. Doch können wir uns wirklich so sicher sein? Ein Verdienst der Science Fiction ist es, hier Denk-Alternativen zu entwerfen und unsere vermeintlichen Intuitionen zu hinterfragen. Im Prinzip gibt es allerdings nicht viele Möglichkeiten: Entweder steht die Zukunft schon
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