PR TB 020 Das Gesetz Der Gläsernen Vögel
der
Bewußtlosigkeit des Rematerialisierungsschocks, zehn Tage nach
der Ankunft auf der Insel des strafenden Gottes: Eine Tagesreise von
der Insel entfernt. Es waren drei Reiter: Yser, Keenra und Thoogr.
Die Vögel hatten den Ältesten des Jägerklans reiten
lassen. Die schneeweißen Cavans peitschten mit ihren langen
Schweifen das hohe Gras. Thoogr deutete nach vorn. In dunstiger Ferne
sah man einen Bergkegel; steil und gezackt, von einem Kranz weißer
Wolken um
geben, die die Spitzen unsichtbar machten. Die Sonne stand im
Rücken der Reiter.
»Dort, um diesen Berg herum, befindet sich die Insel des
wartenden Gottes. Die Landschaft der Bauern und Obstleute.«
»Gut«, sagte Keenra und lockerte ihren Zügel.
»Vorwärts. Wie lange werden wir brauchen?«
Thoogr zuckte die mächtigen Schultern. »Es hängt
von der Tagesleistung ab«, sagte er. Dann winkte er. Hinter ihm
tauchte Theevi auf, der zwei Packtiere und drei Cavans an der
Zugleine hielt -ausgesucht starke und ausdauernde Tiere.
»Danke, Theevi«, sagte Yser. Wortlos riß der
Jäger sein Tier herum und ritt davon. Freundschaft war hier auf
die Begegnung zweier Menschen beschränkt. Gefühle zu
zeigen, wenn ein Dritter anwesend war, verboten die Vögel. Yser
knotete das Seil am Hörn des Sattels fest, rammte dem Cavan die
Sporen in die Weichen und gab den Zügel frei. In einem leichten
Galopp ritten sie los. Die Reise dauerte elf Tage.
Vor ihnen verschwand die Spitze des Mboya in den grauweißen
Wolken. Die Reiter waren der Insel des wartenden Gottes nicht mehr
fern - aber noch konnten ihre Augen nichts erkennen außer
weiten, in voller Frucht stehenden Feldern.
Es war am frühen Morgen. Tharc Yser fand im Gras, halbtot,
einen jungen Vogel, einen geflügelten Bruder dessen, der über
ihnen seine Kreise zog; ein junger Falke. Über seine Brust war
eine lange, helle Wunde gezogen, die Krallen waren schon erstarrt.
Nur die stechenden Augen waren noch lebendig und das heiße
Pochen des Herzens, in diesen Augen blitzte es unduldsam und
feindselig. Es gab keine Möglichkeit des Mitleids, keine Hilfe.
Die hornigen Lider schlössen sich ruckhaft, der Kopf sank herab.
Ein Schauder, und er war tot. Thoogrs Gesichtszüge blieben
ausdruckslos, als er sagte: »Jetzt ist sein Geist in dir, Yser.
Er wird dir helfen. Falken sind blitzschnell und haben scharfe Augen
und einen guten Verstand. Er wird dir Schwingen verleihen.«
Yser schwieg und ließ den Vogel aus der Hand gleiten. Als
sich sein Cavan danach bückte, riß Yser brutal an der
Kandare. Als er sich wieder aufrichtete und umsah, bemerkte er den
Blick Keenras. Sie starrte ihn an, und er wußte nicht, warum.
Er hätte die Erklärung gefunden, hätte er sich sehen
können; auch Thoogr entging der Wandel nicht. Jahrhundertealtes
Erbe brach durch. Tharc Yser bot jetzt das Bild eines Arkoniden.
Stolz, kühl und beherrscht, fast arrogant. Sämtliche
Kräfte, die sich zu dieser Haltung zusammenballten, waren
vorhanden. Yser hatte sein Ziel gefunden. Er war erwachsen; ein Mann.
Sie ritten weiter.
Schwere, dunkekot aussehende Erntemaschinen fuhren in breiter
Front durch die Getreidefelder. Der Arbeitslärm war bis hierher
zu hören. Einige der Bauern winkten. Bald waren die Reiter in
der Mitte der ausgedehnten Siedlung, die nicht in Kreisform angelegt
war, sondern ein Straßendorf darstellte, das sich entlang einer
geschwungenen Linie aufbaute. Ein Wall aus ineinander verschränkten
und zugespitzten Baumstämmen umgab die Siedlung, in deren Mitte
ein viereckiger Platz freigelassen worden war. Es war Mittag. Alle
Menschen arbeiteten auf den Feldern, in den Getreidespeichern oder in
den Küchen. In ausgedehnten Koppeln weidete Vieh.
»Schlachttiere«, wie Thoogr lakonisch bemerkte. Dann
sahen sie den Kopf des Gottes.
Gelbe lasierte Tonziegel bildeten, durchzogen von rechteckigen
Adern des dunkelbraunen Mörtels, ein Gesicht von unerträglicher
Duldsamkeit, von einer fast buddhistischen Ruhe, einem exotischen
Fatalismus. Dunkle Augen lagen hinter schweren Lidern und schienen in
das Innere des Kdosses hineinzusehen und dort nichts anderes zu
finden als blinde Schicksalsergebenheit.
»Der Kopf des wartenden Gottes.« Thoogr wischte sich
den Schweiß von der Stirn. »Wartend, wie der Landmann auf
das Gedeihen der Ernte, das vom Wetter abhängt und von zahllosen
Umwelteinflüssen. Allein wir Jäger erhalten von
hier dreitausend Karren voller Brotgetreide im Jahr - viermal
siebenhundertfünfzig.«
Sie hielten vor dem Haus,
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