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Prickel

Prickel

Titel: Prickel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Juretzka
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persönlichem Eigentum< vergessen, dachte ich, und mein Herz klopfte wild gegen den Fotoständer, den ich bei des Doktors letzter Drehung blitzartig unter der Jacke hatte verschwinden lassen. Es war der einzige Gegenstand in Reichweite gewesen, der es mir wert schien, gestohlen zu werden. Und ein wundervolles Souvenir würde er abgeben.
    »Ich weiß wirklich nicht, Kryszinski, was mich davon abhält, Sie in Handschellen von hier fortschaffen zu lassen.«
    So, aus seiner Sicht betrachtet, verstand ich das auch nicht. Also ging ich einfach mal davon aus, daß er wohl seine Gründe dafür haben mußte.
    »Es wird Ihr goldenes Herz sein«, sagte ich.
    Seine Augen funkelten mich durch die runden Brillengläser an. »Das heißt nicht, daß ich es mir nicht jederzeit anders überlegen könnte«, kläffte er.
    »Wissen Sie was«, sagte ich zu ihm und erhob mich, »ich glaub ich geh jetzt.«
    »Sie gehen, wenn ich es Ihnen sage!« fauchte er.
    »Na«, sagte ich, »dann sagen Sie's doch. Ehe Ihr goldenes Herz sich noch einen Kasper einfängt.«
    »Neuhaus!« Zack, stand der Dicke wieder im Raum. Er blickte mich an wie ein Rottweiler, der auf >Faß!< wartet.
    Scheiße, dachte ich. Eines schönen Tages wird dich deine große Klappe noch mal richtig in Schwierigkeiten bringen, Kristof.
    »Sobald er sich auch nur einen Zentimeter bewegt, legen Sie ihn in Fesseln«, befahl der Doktor. Neuhaus löste seinen handlichen kleinen Schlagstock vom Gürtel und leckte sich über die Lippen. Dann standen wir beide ganz ruhig.
    »So, Kryszinski. Ich erteile Ihnen hiermit - vor Zeugen - ein für allemal striktestes, zeitlich unbegrenztes Hausverbot sowohl für die Anstalt als auch für die dazugehörenden Außenanlagen. Sollten Sie es jemals wieder wagen, auch nur in der näheren Umgebung herumzustreunen, werde ich sofort und ohne zu zögern Anzeige in sämtlichen gerade eben erwähnten Punkten gegen Sie erstatten. Habe ich mich klar und unmißverständlich ausgedrückt?«
    Er hatte. Ich nickte.
    Eineinhalb Minuten später war ich draußen, einen Abdruck von Neuhaus' Treter im Kreuz.
    Als ich an der Treppe zum Tor vorbeifuhr, schwang die Eingangstüre nach innen, und der Doktor kam herausgesprungen, offenbar wütend entschlossen, doch leider einen Tick zu spät, um sich mir noch in den Weg zu stellen.
    Plus >Diebstahl<, dachte ich und nickte mir eins, während ich mit einem kleinen, ehrlich bedauernden Winken davonfuhr. Ich hätte ihn für mein Leben gerne über den Haufen gefahren.
    Sie hatten mich nicht übel durchgewalkt, die Pfleger, das begann sich allmählich bis in die letzten Knochen bemerkbar zu machen. Die Beule in meinem Nacken schwoll allmählich zur Größe einer Pampelmuse, und mein Rippenkasten fühlte sich an, als sollte ich die nächsten Tage mit großen Lachern lieber haushalten. Schon morgen würde ich wohl in den prächtigsten Farben schillern. Dazu plagte mich weiterhin ein ausgewachsener Kotzgas-Kater mit sämtlichen beschriebenen Nebenwirkungen.
    Also, körperlich gesehen war ich irgendwie nicht so gut drauf, Leute.
    Aber geistig!
    Trotz der Kopfschmerzen war mein Denken scharf, geradlinig und konzentriert. Mir war wie einem frisch Erleuchteten zumute; als ob mich das gerade Erlebte über eine längst fällige Grenze geschubst hätte, als ob es mich auf meinen Weg gebracht und mir die Augen geöffnet hätte. Die langen Jahre des Umherirrens und der Unsicherheit waren vorbei, ich hatte plötzlich ein Ziel, es lag vor mir in wunderbarer Klarheit, da war kein Zweifel mehr, ob ich ihn gehen wollte, diesen Weg, nur reine Entschlossenheit, befeuert von einer geradezu heiteren Erhabenheit über mögliche persönliche Konsequenzen.
    Ich war von der Kette.
    Eine noch nie dagewesene Wißbegierde überkam mich. Ich nahm den Fotoständer aus meiner Jacke und stellte ihn einen Moment lang vor mir auf das Armaturenbrett, lächelte ihn an. Wie ein glühender Verehrer, wie ein wahrer Fan, wie ein Jünger wollte ich alles, aber auch alles über diesen Mann erfahren.
    Ich stand vor diesem Mietshaus in Oberhausen und ließ meine Augen langsam die graue, fünfgeschossige Fassade hochwandern. Mentales Training nennt man sowas. Gleich würde ich das Treppenhaus in Angriff nehmen müssen, denn mein Freund Pierfrancesco Scuzzi wohnt oben, unterm Dach. Nur einer der Gründe, warum ich ihn so hasse.
    Der Aufstieg war Kampf, doch erst mit der Ankunft oben begann das eigentliche Scharmützel. Ich focht für mein Recht auf Atemluft, rang mit dem

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