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Prickel

Prickel

Titel: Prickel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Juretzka
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neben meiner Türe herlaufen und bölken, bis wir hundertfünfzig Meter zurückgelegt hatten und er zurückhasten mußte, weil die Schlange hinter seinem Wagen in einem Crescendo gnadenlos gepreßter Hupen zu explodieren drohte. Ich konnte mir nicht helfen, ich mußte lachen.
    Mein Bart hing mir vorne bis zu den Knien und mein Haar hinten runter bis zum Arsch und beides war von prächtigem Schlohweiß, als der Enkel des Mannes, dem ich zwei Generationen zuvor meine Papiere zur Überprüfung hatte aushändigen müssen, das Lebenswerk seiner Vorväter zum Abschluß brachte und mir die unterdessen völlig vergilbten und abgegriffenen Dokumente mit den einstmals ersehnten, mittlerweile aber nur noch wie Hohn klingenden Worten: »Warten Sie!« in die tattrigen, gichtigen Hände gab. Und ich ächzte vor Anspannung wie das Gebälk einer Minenverstrebung unter einem Kilometer Deckgebirge, als Pfleger Weber mich holen kam. Ein Gefühl beschlich mich. Es war das Gefühl, heute vielleicht besser nicht gekommen zu sein.
    Bernd Roselius, mein mir anvertrauter Klient, sah aus wie der Tod im Nachthemd.
    Als ich vor Jahren mal meine von einem übereifrigen Tierfreund eingefangene Katze im Tierheim abgeholt habe, hat in einer der Boxen ein noch recht junger Hund in der Ecke gelegen, den die Behörde einem Sadisten weggenommen hatte, und an den mußte ich denken, als ich Roselius gegenüber Platz nahm. Genau wie damals wußte ich nicht recht, ob ich bei seinem Anblick in Tränen oder in einen Blutrausch ausbrechen sollte. Am nächsten Tag bin ich wieder hin, doch da hatten sie ihn schon eingeschläfert.
    Ich steckte mir eine an, und meine Finger zitterten dabei. Ich war tatsächlich den Tränen nahe, Tränen der Ohnmacht. Hier, in diesem grausigen alten Gemäuer geschah Ungeheuerliches, und ich war außerstande, daran irgend etwas zu ändern.
    Roselius nickte in einem fort, die Augen starr in eine unendlich weite Ferne gerichtet.
    Ich fragte, so ruhig ich konnte: »Du erkennst mich wieder, nicht wahr?«
    Nicken, Nicken, Nicken, Nicken.
    Ich fragte, milde wie ein Bestatter beim Anschneiden der Preisfrage: »Könntest du mich ansehen?«
    Die Zigarette war zu Ende und die nächste beinahe, als er den Kopf wandte und mich angsterfüllt anblickte.
    Ich sagte: »Ich habe nur eine Frage, heute. Sie ist sehr wichtig. Also hör gut zu und laß dir Zeit mit der Antwort.« Ich wartete einen Moment, bis ich mir halbwegs sicher war, daß seine Ohren auf Empfang geschaltet waren. Dann sagte ich, langsam und deutlich, jede Silbe für sich betonend: »Die Frage lautet: Wo - finde - ich - Det?«
    Die Tür flog auf. Knallte gegen die Wand. Vielleicht hatte ich mich zu sehr auf Roselius' Mienenspiel konzentriert, auf alle Fälle war ich nicht vorgewarnt gewesen, und der Schreck fuhr mir in alle Knochen. Was dann geschah, ist in meiner Erinnerung ein bißchen außer Fluß.
    Sicher ist, daß es mir mit einem Schlag sämtliche Sicherungen herausgehauen hat.
    Ich war in den letzten Tagen schon vor ein paar knüppelschwingenden Polen davongelaufen, ich hatte es vor Jahren versäumt, diesen kleinen Hund zu retten, und es war abzusehen, daß ich auch im Fall Roselius versagen würde, und ab da wäre es mir wohl auch egal, wenn mich die ganze Welt wie den letzten Arsch behandelte und nicht nur die paar ekelhaften, menschenverachtenden Weißkittel in dieser Anstalt.
    Zwei davon standen in der offenen Tür, grinsend, Roselius gab ein gurgelndes Geräusch von sich, und mein Sicherungskasten explodierte, der Stromkreislauf brach zusammen, Lichter verlöschten, Töne verstummten ...
    Ab da habe ich nur noch eine Abfolge von Momentaufnahmen im Kopf, als ob sich das Geschehen tatsächlich im Dunkeln abgespielt hätte, nur in bestimmten Abständen von Fotoblitzen erhellt.
    Pfleger Weber am Boden, mit Blut um Mund und Nase .
    Pfleger Neuhaus' dickes, verzerrtes Gesicht ganz dicht vor meinem, meine Hände in seinem Haar, das dumpfe, häßliche Geräusch von Kopf gegen Wand ...
    Der Anprall von etwas sehr Hartem in meinem Nacken, resultierend im Nachgeben von etwas plötzlich sehr Weichem in meinen Knien .
    Korridore voll krimineller Wahnsinniger, die sich mit Panik in den Augen links und rechts an die Wände drücken, während meine Schuhspitzen über den Fliesenboden schleifen und ich tobe und brülle und geifere und mich vergeblich gegen die Umklammerung meiner Arme wehre .
    Die Gestalt von Dr. Blandette am Ende eines der Gänge, Hände in den Taschen seines Kittels,

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