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Priester des Blutes

Priester des Blutes

Titel: Priester des Blutes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douglas Clegg
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dem Augenblick
zur Stelle sein, in dem sie aus der zerbrochenen Schale ihres Nestes schlüpften. »Man muss das Erste sein, was sie sehen«, erklärte ich ihm. »Selbst die Mutter des Falken darf nicht das Erste sein, das der Nestling erblickt. Ihr müsst es sein. Euer Gesicht. Eure Stimme. Eure Augen. Dann wird der Vogel jeder Eurer Bewegungen folgen und Euch nicht von der Seite weichen. Es ist unmöglich, sie gut abzurichten, wenn sie bereits flügge geworden sind.«
    Dann befragte er mich eines Tages erneut nach dem Greif. »Du hast mir vor mehr als einem Jahr von einer legendären Bestie am Grunde eines Brunnens erzählt«, sagte er. »Seitdem habe ich von diesem Brunnen reden gehört, wenngleich meine Angehörigen nichts über seine Lage wissen. Sage mir, Falkner, hast du mir damals die Wahrheit darüber gesagt?«
    Ich nickte. »Die Wahrheit, soweit ich sie verstehe, Herr.«
    »Dann bringe mich dorthin«, sagte mein Lehrmeister. »Ich muss diese Kreatur fangen.«

DER GREIF
    Es war ein Tag voller Nebel und böser Omen. Die Sonne zeigte sich nur als runde Aurora, die Umrisse einer bleichen Scheibevor dem weißen Himmel, der mit Wolkenfetzen bedeckt war. Wir beobachteten, wie eine Eule aus den dunstigen Marschen aufflog, ein Geist in der nebligen Luft. Aber keiner von uns verlor ein Wort darüber. Eine Familie von Bettlern begegnete uns, als wir mit unserem Pferd auf der Straße unterwegs waren, und auch das war ein schlechtes Vorzeichen, denn Bettler wurden als Fluch und Ankündigung für eine Wendung des Schicksals betrachtet. Wir passierten sie, und ich warf einen Blick zurück auf den Mann, der von Natur
aus hinkte und von seiner äußerst erschöpften Frau und ihren drei kleinen Kindern in einem Karren geschoben wurde. Ich dachte an meine eigene Familie und daran, wie kurz wir davorstanden, uns in der gleichen Lage wie sie zu befinden.
    Der uns umhüllende Nebel wurde dicker, als wir am Sumpf entlangkamen. Hier und da sagte mein Lehrmeister etwas über dieseidige Glätte des Wassers zu mir und wie hoch es für diese Zeit des Jahres zu stehen schien. Ich warf einen Blick vom Pferd hinab - es schien mir, als sähe ich Gesichter in dem trüben Wasser neben den höher gelegenen Wegen. Wir ritten zusammen in die Arme des Großen Waldes, ich saß vorne und lehnte mich gegen seinen Körper hinter mir. Ich rief ihm die Richtungen zu, die wir einschlagen mussten, als wir den grünen Pfad erreichten, der sich zwischen Bäumen und über kleine Hügel dahinwand und -schlängelte. Der Nebel wurde immer dünner, je tiefer wir in den Wald kamen. Das Pferd meines Herrn sprang über gefällte, ver rottende Baumstämme und galoppierte immer weiter, entlang dem, was einst ein Weg gewesen, nun aber mit Farn bedeckt war, bis der Wald um uns herum zu dicht wurde. Da stiegen wir ab, und er führte das Pferd ein Stück am Zügel, bevor er es kurz vor dem letzten Zipfel des grasbewachsenen, steinigen Pfades festband, der an einer engen Schlucht endgültig an seinem Ende angelangt war.
    »Dieser Wald ist gefährlich«, erklärte er. »Die Wölfe sind dieses Jahr hungrig. Hast du dich schon einmal so weit vorgewagt?«
    Ich nickte und deutete auf ein dichtes Dornengebüsch. »Dort hindurch«, sagte ich. »Sie nennen es die ›Waldtür‹.«
    »Wer sind ›sie‹?«
    »Die Leute«, antwortete ich, da mir kein besseres Wort einfiel.
    »Ach, das gewöhnliche Volk.« Er grinste. »Haben sie keine Angst vor diesem Wald?«
    »Manch mal haben sie Angst«, entgegnete ich. »Manch mal auch nicht.«

    »Da gibt es Leute, die hier leben«, sagte Kenan. »Sie sind voller Teufeleien, noch aus den Tagen vor der christlichen Nächstenliebe. Sie halten an ihrer Zauberei fest.« Seine Stimme nahm einen anderen Tonfall an, als fürchte er sich, in der Umgebung der Bäume solche Dinge auszusprechen. »Mein Vater hat mir einst von diesen Leuten erzählt.«
    »Ich habe sie schon gesehen«, erwiderte ich. »Aber sie sind keine Teufel. Sie leben noch bescheidener als selbst meine Brüder und Schwestern. Und dennoch sind sie in mancher Hinsicht reicher als Könige.«
    »Wenn sie in diesem Wald leben, sind sie Eindringlinge und Wilderer«, sagte er streng, aber erneut entdeckte ich ein ängstliches Zittern in seiner Stimme.
    Ich sprang über einen bemoosten Stein und schritt in die smaragdgrüne Dunkelheit, als uns Bäume das Sonnenlicht abschnitten. Ich fügte mir an dem Dorngestrüpp einige Schnittwunden an Armen und Gesicht zu.
    Kenan zog sein Messer und

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