PRIM: Netzpiraten (German Edition)
fuhr dann fort:
„Erpressungsversuche dieser oder ähnlicher Art bei hohen Politikern und Regierungsmitgliedern sind nicht so selten, wie man vielleicht annimmt. Zusammen mit dem FBI haben wir im letzten Jahr eine kleine Untersuchung darüber angestellt. Sie ist in dem Ordner „Hintergrund Erpressungen“ abgelegt. Danach sind siebenundzwanzig Prozent als üble und ganz überwiegend harmlose Scherze einzustufen, und neunundfünfzig Prozent sind unprofessionell und meistens sogar irrational. Die Aufklärungsquote ist sehr hoch, ich glaube höher als neunzig Prozent. Die restlichen, das ist dann einer von sieben der Erpressungsversuche, sind ernst zu nehmen und erfordern polizeiliche, manchmal auch geheimdienstliche Untersuchungen und Gegenmaßnahmen.
Warum erzähle ich Ihnen das? Weil wir in Beagle noch keine gemeinsame Meinung dazu haben, ob wir es bei PRIM mit einer Erpressung der zweiten oder der dritten Kategorie zu tun haben. Eigentlich sollte man annehmen, dass es sich um sehr gefährliche Drohungen handelt, wenn man an den Geheimnischarakter der Dokumente denkt, besonders unter Einbeziehung der heute von PRIM geschickten Mail, und an eine mögliche Weitergabe mit allen für die Vereinigten Staaten unabsehbaren, in jedem Fall aber unangenehmen Folgen. Aber dann weist PRIMs Erpressungsversuch eine Anzahl irrationaler Elemente auf, die eine harmlosere Variante der Erpressung nahelegen. Hierzu zählen die völlig überzogene Höhe der Forderung, die Erpresser mit Bodenhaftung wohl nicht gestellt hätten, die Garantie für Straffreiheit in Verbindung mit der Vergabe neuer Identitäten, und nicht zuletzt der Schwachsinn über die Faktorisierung. Hier ist nicht nur das mathematische Problem zu sehen, dessen Lösung von den Fachleuten als praktisch aussichtslos bezeichnet wird, sondern auch die Tatsache, dass die Erpresser keinen Nachweis für eine Faktorisierung geliefert haben. Es wird in Beagle mehrheitlich angenommen, dass PRIM bluffen und sich Zugang zu entschlüsselten Dateien verschafft haben. Allerdings hatten die meisten von uns bisher gedacht, dass sich mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Insider aus dem Weißen Haus beziehungsweise aus dem Freundeskreis der Präsidentenfamilie hinter PRIM verbirgt. Diese Annahme müssen wir möglicherweise revidieren, falls wir feststellen, dass die heute von PRIM geschickten Protokolle keinerlei Verbindung zu dem bisher ins Visier geratenen Personenkreis haben.
Wir ermitteln zur Zeit noch in alle Richtungen. Die Erfahrung zeigt, dass wir umso schneller vorankommen werden, je mehr wir von den Erpressern hören. Hoover wird uns dazu viel erklären können, und vielleicht verraten PRIMs Mitteilungen auch Possling etwas, womit wir sie festnageln können.“
McFarlane ließ immer noch keine Diskussion oder Fragen zu. Er bat die Beagle-Gremiumsmitglieder, die schon länger dabei waren, in Ein-Minuten-Statements ihre bisherige Arbeit zu beschreiben und anzugeben, was sie angesichts der neuen Nachricht PRIMs zu tun gedachten. Als ersten rief er Neil Kaestner auf.
Kaestner war neben Hoover der einzige Mann im Raum, der weder eine Krawatte noch ein Jackett trug. Er war groß, hager und schwarzhaarig mit Bürstenhaarschnitt. Bei seinem offenen, jungenhaften Gesicht fand Alice es schwierig, sein Alter abzuschätzen. Er erinnerte sie an einen ehemaligen Verehrer ihrer Freundin Ann-Louise, einen Assistenten am Lehrstuhl für Wirtschaftsmathematik am MIT in Cambridge, dessen Alter sie um zehn Jahre unterschätzt hatte. Kaestner stand auf und verbeugte sich ganz leicht. Der hat beim Militär gedient, dachte Alice.
„Neil Kaestner, NSA Funknetzortung. Ich habe mit meinen Leuten untersucht, ob es versteckte Sender gibt und in wie weit überhaupt lokale Netze vorhanden sind, die für eine unbemerkte Übertragung in Frage kommen können. Hier und bei der Schwester in Annapolis. Alle Anzeichen deuten darauf hin, dass es keine drahtlose Weitergabe der Mails gegeben hat. Falls sich die heute neu erhaltenen Dateien als echt erweisen sollten, gewinnt diese Feststellung weiter an Wahrscheinlichkeit. Details finden Sie in meinen Berichten. Wie wir alle stehe ich in engem Kontakt zu meinem Dienst und nehme dessen Unterstützung und Expertise in Anspruch. Eigentlich ist meine Arbeit in Beagle damit abgeschlossen. Aber Mr. McFarlane hat mit meinen Vorgesetzten vereinbart, dass ich vorerst in Beagle bleiben soll, weil man beim Secret Service davon ausgeht, dass PRIM sich bald telefonisch melden
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