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Principia

Principia

Titel: Principia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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Fenster der Kutsche zu, bis diese sich in Bewegung setzte, worauf er die Sichtblenden zuzog, sich vorbeugte und das Gesicht in den Händen vergrub.
    Er wollte Tränen der Wut vergießen, doch aus irgendeinem Grund kamen sie nicht. Vielleicht hätte er sich, wenn das Ganze zu einer raschen, sauberen Flucht geraten wäre, entspannen und den Tränen freien Lauf lassen können. Aber sie befanden sich auf einer der verstopftesten Straßen ganz Londons. Dennoch verspürte er nicht den Drang, dem Kutscher Anweisungen zu erteilen, denn es würde noch eine Viertelstunde vergehen, bis sie zu einer Wendemöglichkeit gelangten. Diese würde sich bei der Kreuzung mit Cornhill, hundert Fuß entfernt, ergeben.
    Nach einer Weile griff er in seine Tasche und nahm das Flugblatt heraus. Er strich es auf seinem Oberschenkel glatt und öffnete die Sichtblende einen Spaltbreit, damit Licht darauf fiel. Dies alles erforderte eine bewusste Anstrengung und eine gewisse Stärke, da er sich eigentlich zurücklehnen, den vornehmen Komfort der Kutsche genießen und so tun wollte, als wäre ihm diese erbärmliche, abscheuliche, üble, gemeine Sache gar nicht angetan worden.
    Er wusste nicht genau, wie alt er war – vermutlich um die sechzig. Seine Filzlocken waren an den Spitzen schwarz, an den Wurzeln jedoch grau. Er hatte den Erdball umschifft und konnte mehr Sprachen, als die meisten Engländer Trinklieder konnten. Er war Offizier eines Handelsschiffes und besser gekleidet als jedes Mitglied des Kit-Cat Clubb. Und dann das! Dieses Stück Papier auf seinem Oberschenkel. Charles White hatte es drucken lassen, aber jeder Engländer hätte das Gleiche tun können. Diese spezielle Konfiguration von Tinte auf der Seite hatte ihn zu einem gehetzten Flüchtling gemacht, ihn einem widerwärtigen Anreißer an der Straßenecke ausgeliefert, ihn gezwungen, aus einem Kaffeehaus zu fliehen. Und ihm eine Kanonenkugel in den Magen gejagt. Hatte sich Daniel Waterhouse so gefühlt, als sich ein Stein von der Größe eines Tennisballs in seiner Blase breitgemacht hatte? Vielleicht; aber ein paar Minuten Arbeit mit dem Messer, und ein solcher Stein war verschwunden. Die Kanonenkugel in Dappas Magen war nicht so leicht zu entfernen. Ja er wusste, dass sie bis ans Ende seiner Tage jedes Mal wiederkehren würde, wenn er sich der Ereignisse der letzten Minuten entsann. Er mochte imstande sein, die Miner va zu erreichen und außer Reichweite zu gelangen, doch selbst wenn er im Japanischen Meer wäre, würde Charles Whites Kanonenkugel ihn jedes Mal im Magen treffen, wenn sein Verstand müßigging und seine Gedanken zu diesem Tag zurückkehrten. Und das würden sie, wie ein Hund zu seinem Erbrochenen.
    Das, so erkannte er nun, war der Grund, warum Gentlemen sich duellierten. Nichts anderes konnte eine solche Schmach tilgen. Dappa hatte schon mehrere Menschen getötet, hauptsächlich Piraten und meistens mit Pistolenschüssen. Die Chancen, dass er Charles White in einem fairen Duell eine Kugel in den Leib jagen konnte, standen besser als fünfzig zu fünfzig. Aber Duelle waren etwas für Gentlemen; ein Sklave konnte seinen Herrn nicht fordern.
    Es war ohnehin ein dummer Gedanke; er musste zur Miner va gelangen, entkommen. Die Kutsche bog rechts auf Cornhill ein, arbeitete sich also zurück in Richtung Pool. Wäre sie links abgebogen, hätte das bedeutet, dass man ihn zum Leicester House brachte, wo Eliza mit einem Nest voller Hannoveraner wohnte. Ja, es war besser, aus der Stadt zu verschwinden.
    Und doch war ihm die Vorstellung, Charles White zum Duell zu fordern, ihm eine Kugel in den Leib zu jagen, so herrlich erschienen. Im Grunde genommen war sie das Einzige, was ihm seit dem Schock, seinen eigenen Namen auf dem Dokument zu erblicken, eine gewisse Befriedigung verschafft hatte.
    Er öffnete die Sichtblenden ein Stückchen weiter und schaute sich durch Rück- und Seitenfenster um. Aus nicht mehr als zwölf Fuß Entfernung erwiderte Johann seinen Blick. Er folgte in der Schneise, welche die Kutsche durch die Menschenmenge zog. Mit einer scharfen Kopfbewegung bedeutete er Dappa, die Sichtblenden zu schließen. Dann blickte er sich nach hinten um. Dappa sah, dass ihnen in gemächlichem Spazierschritt zwei Männer folgten, von denen jeder ein Exemplar des Flugblattes in der Hand hielt. Als er die Augen über die ganze Breite von Cornhill wandern ließ, sah er, dass weitere Exemplare des Flugblattes verteilt wurden. Das Einzige, was verhinderte, dass er mit Geschrei

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