Prinz Charming
erster Stelle. Sie waren zu jung, um für sich selber zu sorgen. »Also wollen Sie allen Menschen den Rücken kehren?« Und mir, fügte sie in Gedanken hinzu. O Gott, was sollte sie tun, wenn sie ihn brauchte? Wie würde sie mit den Zwillingen, Victoria und deren ungeborenem Kind zurechtkommen?
Aber diese Angst verflog sofort wieder. Sicher würde sie alle Schwierigkeiten meistern. Sie hatte Lucas Ross ohnehin nicht in ihr Leben eingeplant. Zur Nervosität bestand kein Anlaß, denn sie war eine unabhängige wohlhabende Frau.
Ursprünglich hatte sie sich vorgenommen, mit ihren Nichten in eine Kleinstadt weiter draußen im Westen zu ziehen, eine Haushälterin zu engagieren und den Mädchen eine gute Ausbildung zu bieten. Die beiden sollten alle Vorteile genießen, die ihre Tante ihnen verschaffen konnte, und vor allem beschützt werden. Onkel Malcolm durfte sie niemals finden.
Jetzt überdachte sie ihre Entscheidungen noch einmal. In jeder amerikanischen Stadt gab es Telegrafenbüros und Eisenbahnen. In St. Louis oder Kansas City konnte man sie mühelos aufspüren. Keine dieser Städte war unerreichbar, sollte Malcolm nach ihr suchen lassen.
Bedrückt flüsterte Sie: »Wurden Sie jemals von einer unvernünftigen Angst verzehrt?« Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort: »Als kleines Mädchen fürchtete ich mich einmal völlig grundlos vor einem Falken, den mein Vater nach Hause gebracht hatte. Obwohl der Raubvogel in einem Käfig saß, wagte ich mich nicht in den Stall, dann nicht einmal in den Hof, und schließlich versteckte ich mich in meinem Zimmer.«
»Und warum hatten Sie solche Angst?« fragte Lucas verwundert.
»Mein Onkel Malcolm erzählte mir, der Falke wäre ganz wild auf blaue Augen. Wenn ich daran denke, schaudere ich immer noch. Haben Sie schon einmal eine scharfe Falkenkralle gesehen?«
»Ihr Onkel hat einen grausamen Humor.«
»Vor ihm fürchtete ich mich genauso wie vor dem Falken«, gestand Taylor.
»War das auch unvernünftig?«
»Keineswegs. Es ist einfach, jemanden in einer Stadt aufzustöbern, nicht wahr? Seit es Telegrafen gibt und die Eisenbahnen fast überallhin fahren...«
»Ja«, bestätigte er. »Warum fragen Sie?«
Sie brachte es nicht über sich, die Wahrheit zuzugeben. Vielleicht war ihre Angst übertrieben. Sobald Onkel Malcolm das Geld seiner Mutter bekommen hatte, würde er nicht mehr an seine Nichte und die Zwillinge denken und keinen Grund sehen, sie zu verfolgen. Und wenn er es trotzdem tat? »Ich bin einfach nur albern«, erwiderte sie.
»Hatten Sie auch in anderer Hinsicht unbegründete Ängste?«
»Eine Zeitlang verriegelte ich jede Nacht meine Schlafzimmertür aus Angst, jemand könnte hereinkommen.«
»Das finde ich nicht unvernünftig.«
»Ich auch nicht. Aber ich schob noch einen schweren Eichenschrank vor die Tür.«
»Wer hätte denn in Ihr Zimmer kommen können? Eine bestimmte Person?«
»Irgend jemand.« Hastig wechselte sie das Thema. »Wenn Sie in die Berge zurückgehen und Ihre Brüder Sie brauchen
- was wird dann geschehen?«
»Sie werden wissen, wo sie nach mir suchen müssen, und mich nach ein bis zwei Monaten aufspüren.«
»Oh, das wird Ihre Brüder ungemein trösten, wenn ein Notfall eintritt.«
Aber Lucas beharrte auf seinem Standpunkt. »Sicher kommen sie auch ohne mich zurecht.«
»Ich würde Sie niemals suchen.«
»Das habe ich auch nicht angenommen.«
Verächtlich schnaufte Lucas, und er fragte sich, warum sie sich wegen seiner Brüder dermaßen aufregte. Sie verstand das einfach nicht. Sein Versprechen, den Brüdern zu helfen,
hatte er gehalten und mehr als genug getan, verdammt noch mal.
Was wußte Taylor schon von seinem Leben? Sie war behütet aufgewachsen und stets verwöhnt worden. Natürlich konnte sie nicht ahnen, wie man sich in einem winzigen fensterlosen Gefängnis fühlte, von Ratten und Todesschreien umgeben.
Aber das wollte er auch nicht erklären. Er sprach nie über den Krieg, und was sie von ihm hielt, interessierte ihn nicht.
Sofort erkannte er, daß er sich selbst belog. Aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen war ihm ihre Meinung wichtig. Unsinn, ich bin nur müde, das ist alles. Die Erschöpfung umnebelte seine Gedanken. Draußen tobte immer noch das Gewitter, und es hätte ihn nicht überrascht, die Alarmglocke zu hören, die alle Passagiere auffordern würde, das sinkende Schiff zu verlassen. Doch warum sollte er sich um Dinge sorgen, die er ohnehin nicht ändern konnte? Im Ernstfall würde er Taylor
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