Prinzessin der Nacht - Phantastischer Roman (German Edition)
Vernünftigem zu gebrauchen. Und hatte der Winzling im Glashaus, dieser Kapellmeister, nicht angedeutet, dass all das weggesperrt worden sei, was nicht in die Solterraner Geisteswelt gepasst habe? Jemand wie er, der übergangslos von beleidigtem Gegreine in schwärmerische Verzückung fiel, wäre in Solterra tatsächlich nicht tragbar gewesen, sondern eine Gefahr für die öffentliche Ordnung.
Die Musik, die er dirigiert hatte, war verwirrend gewesen. In Solterra gab es nur einfache Musikstücke, die aus wenigen, klaren Akkorden bestanden und ausschließlich dann durch alle Lautsprecher dröhnten, wenn Anordnungen verkündet wurden. Was der Kapellmeister angestimmt hatte, war dagegen schmeichlerisch gewesen, traumhaft schön und noch dazu gespielt von diesen angeblich verzauberten Instrumenten. Dabei waren Zauber, Spuk und all die schrecklichen Mächte der Finsternis längst besiegt und aus der Welt verbannt. Skaia war sich sicher: Sie hatte etwas gesehen und gehört, das verborgen bleiben sollte.
Aber sie würde einfach versprechen, niemandem davon zu erzählen. Dann könnte man sie wieder laufen lassen. Hoffentlich bald. Denn wenn sie sich sputete, gelänge es ihr vielleicht noch, Aldoro zu Hause zu erwischen. Im Moment machte er sich wohl wenig Sorgen. Das war der Vorteil davon, dass Skaia schon zweimal auf dem Sonnenmast eingeschlafen und nicht rechtzeitig zum Frühstück zurück gewesen war. Aber wenn sie es nicht schaffen sollte, ihre Lernsachen zu holen und mit wehenden Fahnen zur Erziehungsanstalt zu eilen, dann würde es Ärger mit Klirr geben. Sie konnte ja nicht einmal erklären, warum sie zu spät dran war. Dass man sie in der Burg aufgehalten hatte, würde keiner glauben. Es war vertrackt: Die Wahrheit konnte sie nicht sagen. Aber wenn sie sich eine Ersatzwahrheit ausdachte, würde ihr Klirr wieder Lügenhaftigkeit vorwerfen und verkünden, dass sie die Klasse endgültig wiederholen müsse. Das hieße noch ein Jahr Klirr. Bei diesem Gedanken schüttelte es Skaia.
Sie hatte mit ihren Wärtern mittlerweile sechs ellenlange Gänge durchmessen, war dabei um x Ecken gebogen, hatte kahle Räume passiert und war eine Wendeltreppe über zwei Etagen hochgestiegen. Die Zelle, in der sie geschlafen hatte, musste sich in einem sehr, sehr abgelegenen Trakt befinden. Das war vermutlich auch der Grund dafür, dass bislang kaum etwas an die Erzählungen der Urgroßmutter erinnerte. Von Pracht und Glanz keine Spur. Erst als sie an eine Tür mit zwei Flügeln kamen, entdeckte Skaia ein hübsches Detail. Wo eigentlich die Türklinke sitzen sollte, prangte eine kleine, goldene Sonne. Als der vorneweg gehende Robold darauf drückte, erkannte Skaia, dass sie ein verzierter Mechanismus zum Öffnen der Tür war. Dahinter tat sich ein Treppenhaus auf, das Skaia staunen ließ. Auf hohen Sockeln saßen, aus Marmor gehauen, Gelehrte mit ihren betroddelten Mützchen. Aber zum Schauen blieb kaum Zeit. Die Robolde eilten an den Skulpturen ebenso ungerührt vorbei wie zuvor an all den schmucklosen Wänden. Skaias Blick blieb an den Figuren hängen, während sie weiterlief. Einer der Mützenmänner betrachtete mit schief gelegtem Kopf ein längliches Glasröhrchen, das er in der Hand hielt. Weitere Gedanken konnte sich Skaia nicht darüber machen. Sie hatte nicht darauf geachtet, dass die letzte Stufe gekommen war ― und stürzte.
Die Robolde warteten, bis sie sich wieder hochgerappelt hatte. Sie hätten ihr ruhig helfen können! Lebten in der prächtigen Burg und waren solche Stoffel. Wenn Skaia hier wohnen würde, wüsste sie, wie man sich zu benehmen hätte.
„Du schön“, schnarrte unerwartet der vordere Robold. Oh! Wie kam er jetzt darauf? Wollte er nett sein? Unsinn! Die Robolde waren ja so konstruiert, dass sie niemanden mit eigenen Gefühlen belästigten. Das war nur das Höflichkeitsprogramm, das sich ab und zu einschaltete.
Skaia wollte gerade ebenso höflich „Danke“ sagen, da klappte der Robold seine Brust auf. Aus einem der zahlreichen Fächer, die sich im Inneren befanden, fischte er einen Kamm und reichte ihn Skaia. Dann beugte er sich zu ihr. Dort, wo beim Menschen das Herz lag, war bei ihm ein Spiegel eingebaut, in dem Skaia ihren zerzausten Schopf betrachten konnte. „Schön machen“, forderte der Robold sie auf.
Aha! Das war also gar kein Kompliment gewesen. Skaia ärgerte sich. Sie hasste es, sich zu kämmen. Mit ihren dichten Haaren war es jedes Mal ein fürchterliches Geziepe und Gezerre, und danach
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