Prinzessin der Nacht - Phantastischer Roman (German Edition)
daraufgesetzte Fleck tatsächlich nicht.
„Meiner Mutter war es so peinlich, dass sie meinem Vater gar nichts davon erzählt hat. Da hätte ich mir erst etwas anhören müssen: ‚Wenn du schon schwächer bist als die anderen, dann lass dich nicht auf Raufereien ein. Man muss sich ja schämen für dich. Wieso schicken wir dich überhaupt auf diese teure Schule, wenn du offensichtlich eine Memme bist?’ Den Fleck hat er Gott sei Dank bis heute nicht entdeckt. So genau achtet er ja nicht auf mich.“
Nach ausführlichen Beschreibungen, wie gemein die beiden Rabauken waren, die Mikolo immer bedrängten, hatte Skaia eine klare Vorstellung davon, wie die fiesen Kerle, mindestens drei Köpfe größer als Mikolo, ihn verfolgten. Mit blutunterlaufenen Augen glotzten sie auf den kleinen Blonden herunter, mit spitzen Zähnen grinsten sie, mit schwieligen Händen packten sie ihn, umkrallten seine Arme und Beine, schüttelten ihn, bis die Tüte mit diesen Drachenbonbons aus seiner Jackentasche fiel, und warfen ihn fort wie einen Müllsack. Sahen ihm nach, wie er in hohem Bogen durch die Luft flog.
„Sie kreischten vor Begeisterung, als das Glasdach unter mir zersplitterte ― und waren nicht mehr zu hören und zu sehen, als ich am Waldboden aufknallte“, schloss Mikolo seine dramatische Erzählung.
„Bitte?“, fragte Skaia und hörte auf, sich Beeren in den Mund zu stecken. „Durch was für ein Glasdach bist du denn gefallen? Über dem ganzen Wald“, sie schaute nach oben, „ist nichts als Himmel.“
„Das Glasdach ist jetzt nicht mehr da. Das ist ja das Schlimme.“
Skaia war ganz und gar nicht überzeugt. Wahrscheinlich hatte Mikolo sich Javónien nur ausgedacht. Er war nur ein Junge, der durch die Dunkelheit im Reich der Königin verrückt geworden war.
„Das Glasdach gehört zu einem alten Gewächshaus. Das Ding ist total verfallen und mit einem Maschendrahtzaun abgesperrt. Und an der Tür hängt ein Schild: ‚Zutritt verboten’. Mehr steht nicht dran. Aber es weiß sowieso jeder, warum es besser ist, nicht in das Haus hineinzugehen.“
Wieder hielt Skaia mit dem Kauen inne.
„Weil man darin verschellt, wenn man nicht aufpasst!“
„Was tut man?“
Mikolo rückte näher an Skaia heran. „Es ist einmal ein Prinz darin verschollen. Ist hineingegangen und nie wieder herausgekommen.“
Vielleicht gibt es ja einen Hinterausgang, überlegte Skaia.
„Seitdem ist es verriegelt. Kein Mensch weiß, wohin der Prinz verschwunden ist.“
„Doch!“
„Wie? Wer?“ Mikolo starrte sie mit großen Augen an.
„Na du! Du bist doch jetzt auch verschollen.“
Mikolos Verblüffung zerrann zu einer unglücklichen Miene.
„Dann wird er damals auch hier gelandet sein, oder?“
Mikolo nickte nachdenklich.
„Und so wie er wirst auch du nie mehr zurückfinden.“ Skaia war mitleidlos mit dem kleinen Fantasten. „Nun hast du immerhin die beiden Schläger nicht mehr am Hals. So, bist du satt?“
Ein kaum hörbares „M-hm“ war die einzige Antwort, die er gab.
„Und jetzt will ich zurück zu den Lichterblumen. Die sind wenigstens mal was anderes zwischen dem ganzen Gestrüpp.“
Mikolo folgte ihr. Und auch das Flämmchen neben ihm zögerte kein bisschen.
War Skaia bereits überrascht gewesen, in ihrem Waldgefängnis überhaupt auf eine Menschenseele zu stoßen, konnte sie jetzt kaum glauben, was sie sah. Es war wieder jemand bei den Blumen. Die Lichtung schien ein beliebter Ort zu sein. Vor ein paar Stunden wäre sie begeistert auf den Mann zugelaufen, voller Hoffnung, dass er sie mitnähme, in ein Dorf vielleicht oder wenigstens auf einen Einödhof. Aber seit sie den wirren Mikolo kannte, schien es ihr ratsamer, erst einmal zu beobachten. Ein Mann dieser Statur konnte gefährlich werden, wenn er ebenso seltsam war wie der Junge an ihrer Seite. Auf jeden Fall sah er ungewöhnlich aus. Fast hätte man meinen können, er habe seine Kleidungsstücke in den Lichterblumen gefärbt, so schrill waren sie. Selbst im müden Mondlicht konnte man sie gut erkennen: Über einer mit Silberfäden eingefassten, violetten Weste saß ein scharlachroter Frack, der mit den im gleichen Stoff bezogenen Schuhen aufs Beste harmonierte. Die blassblauen Seidenstrümpfe verschwanden auf Kniehöhe unter kanariengelben Beinkleidern. Ein dreieckiger Hut mit weißen Straußenfedern krönte die wandelnde Modenschau. Der silberne Degen, der am Gürtel des Mannes baumelte, gab offenbar auch Mikolo zu denken, zumindest konnte er seinen
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