Prinzessin der Nacht - Phantastischer Roman (German Edition)
hatte man mit genauer Höhenangabe markiert. Der Punkt, neben dem „Sonnenspitze 322,64 m“ stand, war reichlich abgeschabt, so oft hatten die Erzieher im Unterricht auf die mächtigste Erhebung Solterras gedeutet.
Bevor Skaia leise die Tür aufzog, um auf den Gang zu schleichen, verstaute sie den Sonnenkreis in einer der Taschen, die in den Umhang des Hofrats eingenäht waren. Sie musste vorsichtig sein und den Moment, in dem sie das Allerheiligste präsentierte, sorgsam wählen. Vorerst war nur das Auskundschaften der Lage angesagt. Dass Vormittag war, zeigte der Blick aus dem Fenster. Es konnte also leicht passieren, dass Skaia Erzieher oder Schüler über den Weg liefen.
Doch über zwei Stockwerke hin blieb sie unbehelligt. Erst im Erdgeschoss sprang eine der vielen Türen auf. Skaia huschte hinter die Theke, an der die Pausenbrote ausgegeben wurden.
„Hat jedes zweite Kind seinen Helm auf?“ Das war eindeutig Staubers gellendes Organ. Um sein Fach, Körperertüchtigungskunde, veranstaltete er reichlich Wirbel. „Unser Geist läuft nur in einem gesunden Körper auf Hochtouren“, rief er stets, wenn jemand beim endlosen Lauf über die Aschenbahn schlappmachte. Jetzt mahnte er: „Und nicht dauernd am Knopf rumspielen! Wir schalten die Helmlampen nur an, falls es dunkel wird. Allmählich müssten das alle begriffen haben, oder?“ Einem Mädchen mit wippendem Pferdeschwanz, das die Lampe bereits brennen hatte, knipste er höchstpersönlich das Licht aus. „Fini, du kannst gleich ein paar Ehrenrunden drehen, wenn wir auf dem Platz sind!“
Vor den Toren der Erziehungsanstalt hätte Skaia beinahe den Weg zu ihrer alten Wohnung eingeschlagen. Doch dort wohnte sie ja gar nicht mehr. Sie musste zur Burg.
Wie immer um diese Zeit waren nur wenige Menschen unterwegs. Fast alle, denen Skaia begegnete, trugen Kopfbedeckungen mit daran montierten Lampen. Auch wenn manche der Konstruktionen noch behelfsmäßig wirkten, hatte man sich offenbar mit den Dunkelphasen arrangiert.
Skaia hatte befürchtet, dass das Hofrat-Kostüm mit seinem wallenden Umhang Aufmerksamkeit erregen würde. Wie dumm von ihr. Solterra war nicht Moxó! Hier hechelten ihr keine Buckligen hinterher und riefen, dass da jemand Besonderes unterwegs war. Hier kümmerte sich keiner um sie. Jeder hatte seine Aufgaben, jeder seine Wege.
Einer größeren Menschenansammlung begegnete Skaia nur vor einem Sonnenmast, an dem sie vorbei kam. In Zweierreihe standen Robolde an. Auch sie hatten Lampen dabei. Bei einigen hing eine Fassung mit eingeschraubter Glühbirne an Drähten, die aus dem Hals kamen. Skaia wurde neugierig. Sie wechselte die Straßenseite, um festzustellen, weshalb die Metallmänner Schlange standen.
Bei den Robolden ging es nur langsam voran. Einer, der gerade an die Reihe kam, klappte sein Brustblechdeckelchen auf, zog ein Kabel mit Stecker heraus und reichte es einem Mann im weißen Kittel. „GEGEN LUG, GEGEN TRUG“ stand auf dem Schildchen, das der am Revers stecken hatte. Der Robold starrte auf ein schwarzes Kästchen, an dem eine Steckdose frei war.
Mit mahnendem Blick fragte ihn der Mann: „Wofür willst du heute und in Zukunft immer eintreten?“
„Gegen Lug, gegen Trug“, fiel ihm der Robold fast ins Wort.
Pathetisch übernahm der Mann den Stecker und schob ihn in die Dose. Die Antwort war wohl die erwünschte gewesen, obwohl der Mann nach dem „Wofür“ und nicht nach dem „Wogegen“ gefragt hatte. Energie, abgezapft direkt am Sonnenmast, floss in die Roboldbrust, was am besonders geistlosen Gesichtsausdruck während des Aufladevorgangs sofort zu erkennen war.
Einige Meter weiter hinten brach ein anderer Robold scheppernd zusammen. Nur mit Mühe gelang es seinem Vordermann, ihn wieder auf die Beine zu stellen. Mit zitternden Knien hing der Schwache an ihm. „Lange nicht“, gab der Stützende von sich.
Der andere nickte.
Was sollte „Lange nicht“ denn heißen? Dass der eine den anderen nicht lange halten konnte, weil er selbst so schwach war? Bei Simpel und Gimpel war die Zweiwortsatztechnik verständlicher gewesen. Aber Moment mal ... waren das nicht sogar ihre beiden Türsteher? Natürlich! Wie hatte sie so blind sein können? Nur weil sie nicht erwartet hatte, dass auch Robolde aus der Burg anstehen mussten, um ihre Akkus aufzufüllen. Sie hatten doch mit Lallah und den anderen ihre eigene Ladestation neben den Vorratsräumen von Missjö Sufflee. Seltsam ... Ob die beiden überhaupt in der Lage sein
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