Prinzessin der Nacht - Phantastischer Roman (German Edition)
würden, den Lug-und-Trug-Spruch aufzusagen, der offenbar nötig war, um aufgeladen zu werden? Skaia wandte sich ab. Simpel und Gimpel sollten sie nicht entdecken. Niemand sollte das.
Natürlich war das ein Problem. Würde sie sich am Burgtor zu erkennen geben, öffneten sich sicher die Tore für sie. Dann aber wäre sie wieder der Spielball der Eingeweihten. Würde sie sich unbemerkt anschleichen, blieben die Tore zu und die Mauern unüberwindlich.
Während sie sich grübelnd der Burg näherte, zeichnete sich das mächtige Portal immer deutlicher ab. Und Skaia erkannte, dass sie sich das Pläneschmieden sparen konnte. Die Tore standen sperrangelweit offen! Doch sie durfte nicht leichtsinnig werden.
Sie huschte, solange es ging, im Schatten der Häuser auf den massigen Herrschaftskomplex zu. Ein Mann mit eisgrauen Haaren und herrischem Blick kam über den Vorplatz marschiert und verschwand zwischen den Toren. Seine Schritte hallten durch den Eingangsbereich, bis sie sich im Treppenhaus verloren. Da wagte es Skaia auch, das Gebäude zu betreten.
Und schau an: von Wachen keine Spur. Dafür vernahm sie in den oberen Stockwerken Stimmengewirr. Egal, da wollte sie sowieso nicht hin. Stattdessen durchquerte sie die Marmorhalle im Erdgeschoss und steuerte zielstrebig auf die größte der Türen zu, die direkt in die Gartenanlagen ging. Sie ließ sich problemlos öffnen.
Kurz darauf stand Skaia am Fuße der Treppe, die zu Aldoros Gemächern führte. Sie glaubte zwar nicht wirklich daran, dass sie ihren Bruder dort vorfinden würde, aber wo sollte sie sonst zu suchen anfangen? Im Garten war niemand zu sehen. In einiger Entfernung konnte sie Absperrungen ausmachen, die den Weg zu den Tempeln blockierten.
Mit wenigen Sprüngen gelangte sie an Aldoros Terrassentür. Um überhaupt etwas hinter der im Sonnenlicht spiegelnden Scheibe zu erkennen, musste Skaia ganz nah herantreten.
Das hatte sie nicht erwartet: Die Vorhänge waren abgenommen worden und alle Möbel mit weißen Tüchern bedeckt. Das Zimmer wirkte verlassen. Ungläubig presste sie die Nase gegen die Glastür, um auch in den hintersten Winkel blicken zu können. Klackend sprang die Tür auf, und verblüfft stolperte Skaia nach drinnen.
Mit angehaltenem Atem schlich sie zwischen den verhüllten Tischen, Sofas und Kommoden hindurch. Nur die Schrankwand hatte man nicht verhängt. Hinter ihren Schiebetüren fanden sich noch jede Menge Kleidungsstücke von Aldoro. Verschnürt hingen sie im Schrank, ganz so, als wollte man sie demnächst entsorgen. Die Schuhe lagen in braunen Kunststoffwannen. Mit klopfendem Herzen wühlte Skaia darin. Aber Aldoros Stiefel waren nicht darunter. Sollte sie das nun als gutes oder als schlechtes Zeichen nehmen?
Ins Treppenhaus hinaus traute sie sich nicht so recht. Dann lieber gleich in den Sonnensaal.
„Stell dir vor, ich habe einen eigenen Zugang zum Sonnensaal“, hatte Aldoro ihr die Besonderheit seiner Gemächer geschildert. „Er ist hinter einem Ofen versteckt.“
So richtig hatte sich Skaia es damals nicht vorstellen können. Aber jetzt sah sie es: Der Ofen war einfach gigantisch. Zu den zierlichen Mustern der lindgrünen Kacheln und den zerbrechlich wirkenden Porzellan-Vögeln, die auf kleinen Kapitellen saßen, passte es ganz und gar nicht, wie klobig der Ofen in den Raum hineinragte. Nur wenn man wusste, dass dahinter eine Wendeltreppe ein Stockwerk nach oben führte, wunderte man sich nicht mehr. Die Stufen waren aus Eisen und klangen hell unter Skaias Tritten. Auch die Tür war aus Eisen, sah aber nicht allzu massiv aus. Zumindest die lauten Stimmen von Schrill, Streng und Düster hätte man wohl durchhören können. Es tat sich aber nichts. Also drückte Skaia die Klinke. Es schien Tag der offenen Tür zu sein in der ganzen Burg. Es würde sich direkt lohnen, auch Fräulein Martha einen Besuch abzustatten. Am Ende war sogar die Alte Bibliothek geöffnet.
Sie hatte den Sonnensaal noch nie so eingehend betrachten können. Denn diesmal fehlten die Nebelschwaden. Hätte nicht die Sonne wie immer schonungslos heruntergebrannt, wäre Skaia die Säulenhalle nicht nur kahl, sondern vielleicht sogar kühl vorgekommen. Keine Menschenseele belebte das Herz Solterras. Wo vor kurzem noch die Elite des Landes Aldoro gehuldigt hatte, war nichts und niemand. Nicht einmal der Stuhl des Guten Herrschers stand dort, wo er hingehörte, sondern war an die Wand geschoben worden. Auf seinem Polster türmten sich, fein säuberlich
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