Prinzessinnensöckchen (German Edition)
wenn etwas Schreckliches zu sehen gewesen wäre, Emily sah es nicht.
Sie machte einen mutigen Schritt in die Scheune. Blieb stehen, atmete nicht, spürte nur, wie es in ihr pulste, eine Uhr kurz vor dem Alarm war. Etwas fiel zu Boden, verursachte jedenfalls ein leises, kurzes Geräusch. vielleicht war es nur einer der maroden Balken. Holz arbeitet ja, sagte sie sich, ohne sich beruhigen zu können. Jetzt müsste sie die Taschenlampe anmachen. Die Hand, die sie hielt, war kalt und nass, sie zitterte, sie war gefühllos, als sei sie eingeschlafen, sie gehorchte ihr nicht mehr. Langsam hob Emily den Arm mit der Lampe, es tat weh. Sie drückte den Schieber nach vorne.
In diesem Moment schlug etwas gegen ihre Hand, Emily stieß einen Schrei voller Überraschung und Entsetzen aus, die Taschenlampe fiel zu Boden und dieses Etwas blies seinen Atem in das Gesicht des Mädchens. Das schlug nach der Bedrohung, dorthin, woher der Luftzug, das rasselnde Geräusch gekommen war, wandte sich um, wollte schreien, konnte aber nicht schreien. Nur wegrennen.
Nein, sie konnte auch nicht wegrennen. Einen halben Schritt aus der Hütte machen, in das Dunkelblau des klaren Himmels schauen, vor dem sich die schwarze Silhouette eines Menschen abzeichnete, höchstens zwei Meter vor Emily. Die Umrisse eines Menschen, der den rechten Arm gehoben hatte, in dessen Hand ein langer spitzer Gegenstand zu sein schien. Emily erstarrte, warum überhaupt war sie kein Stein, warum war sie ein menschliches Wesen, noch ein lebendiges menschliches Wesen, eine Bestie vor sich und eine Bestie hinter sich, deren Atem sie in ihrem Nacken zu spüren glaubte.
Emily war verloren.
*
Als Carmen den Feldrand erreicht hatte, duckte sie sich instinktiv. Hier gab es weit und breit kein Versteck, nur unverstellte ebene Fläche, keine Möglichkeit, hinter einem Baum oder was auch immer zu verschwinden. Man müsste sich auf Indianerart heranrobben, bäuchlings wie eine Schlange vorwärts kriechen. Sie blieb aber geduckt, machte jetzt lange, vorsichtige Schritte auf die Hütte zu, deren Front in den Strahl der Taschenlampe geraten war, unruhig zu vibrieren schien. Zweimal rief Emily »Hanna«, dann erlosch das Licht und alles hüllte sich wieder in Dunkelheit.
Emily öffnete die Tür. Carmen bewegte sich nicht, versuchte flach zu atmen, was ihr nicht gelang. Sie horchte, sie überlegte, sie hatte Emilys »Hanna!« im Ohr, zweimal hatte das Mädchen nach seiner Freundin gerufen, zweimal keine Antwort erhalten. Komisch, dass sie Emilys Stimme erst im Nachhinein richtig hörte, dieses Unsichere, Panische darin. Nein, nicht im Nachhinein. Genau JETZT hörte sie Emilys Stimme, es war ein Schrei, kein befreiender, eher ein unterdrückter.
Carmen richtete sich auf, lief in schnellen Schritten zur Scheune, aus der Emily keuchend gekommen war, nun, da sie Carmen gegenüberstand, abrupt stehen blieb, erstarrte. Aber hinter ihr bewegte sich etwas. Und es machte Geräusche, rasselnde Geräusche.
Wann sie die Nagelfeile aus dem Etui in ihrer Jackentasche gezogen hatte, wie ihr das überhaupt möglich gewesen war – sie würde es wohl auch später nicht erklären können. Jetzt stand sie jedenfalls mit erhobener Rechten da, umfasste den Plastikgriff der Feile, streckte die Linke nach der Schulter des Mädchens aus, zischte ihr »Lauf!« zu, schob Emily beiseite und ließ die Hand mit der Feile dem Schatten hinter Emily entgegen schnellen. Der Schatten heulte auf, kam auf sie zu, kollidierte mit ihr, sein Keuchen war eine Mixtur aus Erregung und Schmerz, wie ein verwundetes Tier wohl keuchte.
Carmen ließ sich zur Seite fallen, der Schatten stolperte über ihre Beine, kam ins Straucheln, fing sich aber und rannte über das Feld davon Richtung Wald. Emily! Er verfolgte Emily! Carmen sprang auf, rannte hinterher. Da hörte sie einen Schrei, er kam von rechts, Emilys Schrei.
*
Sie war einfach losgerannt, als ihr die Frau »Lauf!« zugerufen, sie an der Schulter gepackt, zur Seite gestoßen hatte. Weg von hier, hinein in die Dunkelheit. Die Frau, die Frau, die Frau. Warum wollte die, dass Emily weglief? Wer hatte da eben aufgeschrien? Keine Frau, das war der Schrei eines Mannes gewesen.
Egal jetzt. Nicht denken, nicht umdrehen, einfach nur laufen. Sie stolperte, sie stürzte, ihr linkes Knie tat weh, sie dachte an Hannas Knie, Hanna, Hanna, Hanna. In ihr stürzten die Bilder aus allen Ecken und krachten ineinander, gegeneinander, zersplitterten, verliefen, explodierten. Sie
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