Prinzessinnensöckchen (German Edition)
stolperte wieder, sie fiel wieder, auf etwas Weiches, etwas Großes, auf dem sie sich abstützen wollte. Stoff. Kleidung. Ein Mensch. Hanna. Hanna rührte sich nicht. Emily schrie so laut sie nur konnte.
*
»Alles ist gut«, redete Carmen Emily zu. Nichts war gut. Hier lag ein Mensch, ein lebloser Mensch. Der Schatten konnte es nicht sein, der war in eine andere Richtung gelaufen, dem Wald zu. Und der konnte nicht schwer verletzt sein, es war doch nur eine Nagelfeile gewesen, sie hatte nicht mit aller Kraft zugestoßen, eben weil sie nicht töten wollte, nicht einmal schwer verletzen. Vielleicht hatte sie ihn am Arm erwischt, vielleicht an der Schulter. Aber das spielte jetzt keine Rolle. Sie mussten weg von hier, weg von der Scheune, weg vom Wald.
Sie kannte sich hier nicht aus, überhaupt nicht. Sie mussten zurück zum Pfad, wohin sonst, aber dort wartete möglicherweise der Schatten auf sie. Dieses Risiko musste Carmen in Kauf nehmen.
Sie half Emily beim Aufstehen, griff ihr unter die Arme. Um den Körper auf der Erde konnte sie sich jetzt nicht kümmern, erst einmal weg von hier, in die Nähe der Häuser gelangen. Sie stolperten über den Acker, sie erreichten den Waldrand, fanden den Pfad, stolperten auch ihn entlang. Sag etwas, Carmen, sei laut, wenn der Schatten hier irgendwo lauert, soll er dich hören. »Wir haben es gleich geschafft! Komm, halte durch! Ich will dir nichts Böses. Die Polizei ist schon unterwegs.« Das stimmte natürlich nicht. Emily sagte nichts. Sie keuchte, sie schluchzte, also weinte sie jetzt. Das war nicht das Schlechteste.
Endlich! Die Straße, die Häuser. Sie gingen jetzt langsamer, Emily weinte noch immer, fest im Schultergriff Carmens, sie legte ihren Kopf gegen ihre Brust. »Alles ist gut«, tröstete Carmen, nicht nur Emily, sondern auch sich selbst, vor allem sich selbst vielleicht.
22
Sie half Emily auf den Beifahrersitz, ging um ihr Auto, setzte sich hinter das Steuer. Zuerst einmal alle Türen verriegeln, losfahren, irgendwo hin, nur weg von hier. Carmens Hände zitterten. Sie würgte den Motor ab, versuchte es noch einmal. Der Wagen rollte langsam auf die Straße, die Straße zur Stadt. Stopp! Sie fuhr an den Bürgersteig. Der Körper auf dem Acker!
»Wie heißt das dort? Die Straße, du weißt schon, die Scheune. Ich muss der Polizei den Weg erklären.« Emily reagierte nicht, Carmen wiederholte ihre Frage. »Das ist die Wegener-Scheune«, flüsterte Emily und begann wieder zu weinen. »Kreuzstraße«.
Mein Gott, wie sollte sie das erklären! Sie wählte den Notruf, Wegener-Scheune, Kreuzstraße, der Pfad. Dort auf dem Acker ein lebloser Körper. Auflegen. Dass man eventuell den Anruf würde zurückverfolgen können, fiel ihr erst ein, als sie das Ortsausgangsschild »Oberwied« passiert hatten. Der Name war durchgestrichen. Wäre schön, dachte sie, wenn man auch andere Dinge aus dem Gedächtnis einfach so streichen könnte.
Sie entschied, nach Hause zu fahren. Eine nur noch sporadisch schluchzende Emily neben sich, die gekrümmt im Sicherheitsgurt hing. Unwillkürlich lächelte Carmen. Sie hatte dem Mädchen den Gurt nicht umgelegt. Eine automatische Handlung des Mädchens, die auch im Zustand des größten Schocks vollzogen wird. Hm, sie sollte sich tatsächlich überlegen, auf Psychologie umzusatteln.
»Geht's wieder einigermaßen?«
Emily nickte. Ihr Knie sah nicht so schlimm aus wie befürchtet, nur ein paar oberflächliche Hautabschürfungen. Carmen hatte die Wunde desinfiziert und ein großes Pflaster draufgeklebt. Das Mädchen hockte mit nassen Haaren und in Carmens Bademantel im Sessel, es war ihr nichts Besseres eingefallen, als die Kleine unter die Dusche zu stecken und Emily hatte die Prozedur ohne Protest über sich ergehen lassen. Schock, dachte Carmen, sie steht unter Schock. Und sie selbst? Das bisschen logische Denken, zu dem sie fähig war, kehrte allmählich zurück. Und das war nicht so gut.
Es war kurz nach neun und die Polizei wohl inzwischen längst am Tatort. Tatort. Wie sich das anhörte. Die Vorstellung, eine Leiche berührt zu haben, erzeugte auf Carmens Armen Gänsehaut. Kevin, dachte sie, ich muss wenigstens Kevin anrufen. Sie schaute zu Emily, die auf einen Punkt an der gegenüberliegenden Wand starrte, und verwarf die Absicht.
»Deine Mutter... Sie wird sich Sorgen machen. Soll ich – oder willst du?« Emily reagierte mit Verzögerung, wandte den Kopf zu Carmen und sagte mit leiser Stimme: »Nein, die ist vor dem Fernseher
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