Projekt Sakkara
Essen!«
Patrick war froh, dass sich eine Gelegenheit ergab, das Thema zu wechseln. Er konnte nicht recht glauben, was ihr unverblümtes Wesen und ihre Woodstock-Erzählungen gerade nahelegten. War sie nur eine gute Schauspielerin, oder war sie tatsächlich so drauf?
»Heute im Museum«, sagte Melissa unvermittelt, »hast du die Anubis-Statue so merkwürdig angesehen. Was war da los?«
Er überlegte einen Moment, was er ihr erzählen sollte, und entschied sich dann dafür, darauf einzugehen. Schließlich hatte er auch noch ein paar andere Fragen, und irgendwo musste er ja anfangen.
»Ich hatte in der Nacht zuvor gerade erst davon geträumt. Nicht von der Statue, aber von solchen schwarzen Hunden. Ich dachte, es seien Dobermänner, aber tatsächlich sahen sie aus wie Anubis.«
»Tatsächlich? Nun, vielleicht hattest du vorher solche Bilder gesehen?«
»Nein, hatte ich nicht. Und es waren ja auch nicht nur die Hunde. Der ganze Traum war sehr realistisch.« Und dann erzählte er ihr, wie er von Papierblättern, die er nicht lesen konnte, eingewickelt worden war, wie die Hunde erschienen waren und einer ihm den Kiefer aufgebrochen hatte. Dann schilderte er, wie ihm sein Herz herausgerissen worden war und gewogen werden sollte, und wie er plötzlich ein Auge in den Händen gehalten hatte, das er offenbar Peter ausgerissen hatte. Nur von Stefanie sagte er nichts.
Melissa hörte ihm aufmerksam zu und nickte dann. »Das ist wirklich ungewöhnlich«, sagte sie. »Du scheinst eine Sehergabe zu haben.«
»Wie bitte?!« Beinahe hätte er sich verschluckt.
»Du hast mir doch gesagt, dass du dich mit Ägyptologie überhaupt nicht auskennst. Aber trotzdem hast du Szenen aus der ägyptischen Mythologie geträumt!«
Patrick sah sie nur an und wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Melissa war belesen, studiert, und trotzdem schien sie ernsthaft so etwas wie eine Sehergabe für möglich zu halten. Eine reichlich merkwürdige Kombination.
»Oder kanntest du die Pyramidentexte und die Sargtexte schon vorher? Die Bedeutung von Anubis, dem Wächter der Totenstädte ? Kanntest du Maat, die Richterin, Göttin der Wahrheit und der Gerechtigkeit? Vor ihr müssen die Toten ihre Geständnisse ablegen, und ihre Herzen werden gegen eine Feder aufgewogen.«
»Also wirklich ... «
»Und so wie du es beschreibst, Maat mit einer Federkrone auf dem Kopf, und die Seelenfresserin, die neben der Waage steht, das ist doch unglaublich detailliert. Wenn du all das nicht schon vorher einmal irgendwo gesehen oder gelesen hast, dann bleibt doch nur die Möglichkeit, dass du Dinge sehen kannst.«
Patrick dachte darüber nach, wie er in den letzten Monaten häufiger plötzlich Eingebungen gehabt hatte. Eigentlich hatte das mit seinem Eintreten in die Höhle in Südfrankreich begonnen. Seitdem erschien ihm sein Instinkt, auf den er sich früher schon hatte verlassen können, auf seltsame Art geschärft. Nur hatte er noch nie derartig realistische Träume gehabt. Oder vielleicht hatte er sie nur nicht beachtet.
»Und diese Sache mit dem Auge?«, fragte er dann argwöhnisch. »Was sollte das zu bedeuten haben?«
»Ich überlege gerade«, gab sie zurück. »Augen gibt es natürlich überall in der altägyptischen Mystik ... Mir fällt dazu die Legende von Horus und Seth ein.«
Patrick horchte auf. Horus und Seth – das waren die beiden Namen, die an den Schlafzimmertüren im Haus des alten Guardner standen.
»Horus und Seth sind Brüder«, erklärte Melissa weiter. »Zumindest in einigen Fassungen. Manchmal auch Onkel und Neffe, aber meistens Brüder. Sie geraten in Streit, da Horus bevorzugt behandelt wird. Osiris, einer der obersten Götter, will ihn als Erben und Herrscher über das Land einsetzen. Aus Zorn darüber reißt Seth Horus ein Auge aus. Daher nennt man das ägyptische Auge auch oft Horusauge.«
»Seth reißt ihm ein Auge aus? Einfach so?« Der Name Seth hatte an seiner Tür gestanden, überlegte Patrick.
»Erst, nachdem ihm Horus den Hoden abgerissen hat.«
»Sag mal, was sind das denn für Geschichten?!«
»In deinem Traum hast du dich anscheinend mit Seth identifiziert. Er ist üblicherweise die Personifikation des Bösen.«
»Na wunderbar. Das sollte mir jetzt wohl zu denken geben, nehme ich an?«
»Nicht unbedingt.« Melissa beugte sich vor. »Denn was die wenigsten wissen: Er ist einer der ältesten und stärksten Götter!«
»Tatsächlich?«
»Ja. Denn er beschützt Re, den Gott der Sonne, der Widergeburt, Vater
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