Projekt Wintermond
Teich.
»Wer hat dich zu mir geschickt?«
»Ein Freund aus der Zentrale hat mich angerufen. Er hatte eine Kopie des Berichts gelesen, den Interpol an das Dezernat für Vermisstenmeldungen in Atlanta geschickt hat. Ich habe ihm gesagt, dass ich dich informiere. Ich hielt es für besser, wenn du es nicht von einem Fremden erfährst.«
Jennifer zitterte plötzlich am ganzen Körper. Sie hatte immer noch die leise Hoffnung gehegt, ihr Vater würde noch leben. Jetzt kannte sie die Wahrheit, und sie war zu Tode betrübt. »Kann ich ihn sehen?«
Mark nickte. »Du wirst ihn identifizieren müssen. Ich habe mit Interpol gesprochen. Die Stelle, an der er gefunden wurde, liegt an der schweizerisch-italienischen Grenze. Das für die Ermittlungen zuständige Revier der Karabinieri befindet sich in einer Stadt namens Varzo. Ein gewisser commissario Caruso leitet die Ermittlungen. Am besten, du fliegst in die Schweiz. In ein paar Tagen kannst du wieder hier sein.«
Jennifer lehnte sich zurück. Sie war totenbleich und atmete schwer.
»Ist alles in Ordnung, Jenny?«, fragte Mark besorgt.
»Mir schwirrt der Kopf. Es gibt tausend Fragen, auf die ich gern eine Antwort wüsste.«
»Zum Beispiel?«
»Wie ist der Leichnam meines Vaters in den Gletscher gekommen? Was ist mit ihm passiert?«
Mark schüttelte den Kopf. »Es ist wirklich verrückt. Aber mehr, als ich dir gesagt habe, weiß ich nicht. Vielleicht kann dir dieser Caruso mehr sagen.« Er zögerte und schaute auf die Uhr. »Ich muss jetzt gehen. Vorher würde ich Bobby gern noch guten Tag sagen, wenn es dir recht ist.«
»Er freut sich immer, wenn er dich sieht, Mark. Sag ihm bitte nichts davon. Nicht heute. Es würde ihn zu sehr aufregen.«
Mark nickte. »Und du kommst zurecht?«
»Ja, sicher.«
Mark musterte sie nachdenklich und stand auf. »Darf ich dir ein altes Geheimnis verraten? Etwas, was ich dir noch nie gesagt habe?«
»Was denn?«
»Als wir beide noch Teenager waren, konnte ich von meinem Zimmer in dein Zimmer schauen. Ich sah dich jeden Abend vor der Frisierkommode sitzen und habe beobachtet, wie du dein Haar kämmst.« Mark lächelte wehmütig. »Mein alter Herr hat meiner Mutter bis zu seinem Tod jeden Tag vor dem Schlafengehen die Haare gekämmt, mehr als dreißig Jahre lang. Er sagte immer, es gebe zwei Dinge, die ein Mann tun könne, um einer Frau zu zeigen, dass er sie mag: erstens ihr Haar kämmen und zweitens zuhören, wenn sie sich ihren Kummer von der Seele redet. Nachdem du damals, in dieser schrecklichen Nacht, zu unserem Haus gerannt bist und mein Vater dich auf der Veranda fand, dachte ich, auch wir könnten uns besser kennen lernen und gute Freunde werden. Dass ich mir deine Sorgen anhören und dir helfen könnte…«
»Du hast mir geholfen, Mark. Und du bist ein sehr guter Freund.«
»Ja. Aber später hast du dich in dein Schneckenhaus zurückgezogen, und wir beide haben uns lange Zeit nur selten gesehen.«
»Ich habe lange Zeit niemanden gesehen.«
Mark zögerte. »Ich wollte dir nur sagen, dass du mich jederzeit anrufen kannst, wenn du eine Schulter zum Anlehnen oder jemanden zum Zuhören brauchst.«
Als Jennifer in ihre Wohnung zurückkehrte, noch immer aufgewühlt, rief sie als Erstes die Vermisstenstelle in Atlanta an, um sich persönlich von der Richtigkeit der Nachricht zu überzeugen. Sie zweifelte nicht an Marks Worten, aber der Schock saß so tief, dass sie sich fragte, ob sie das alles vielleicht nur geträumt hatte.
Die Vermisstenstelle bestätigte, was sie von Mark erfahren hatte, und teilte ihr mit, dass sie einen schriftlichen Bescheid erhalten würde. Als Nächstes suchte Jennifer das Fotoalbum mit den Bildern ihres Vaters heraus. Es lag in einem alten Karton in ihrem Schlafzimmerschrank. Eine Zeit lang starrte sie auf die Fotos von Paul March, diesem großen, lächelnden, gut aussehenden Mann mit dem schwarzem Haar. Unter den Fotos befanden sich auch Schnappschüsse, auf denen Jennifer mit ihrem Vater, ihrer Mutter und Bobby zu sehen war, sowie Urlaubsfotos aus Europa: Paris, London, Zürich. Unten im Karton lagen die alten Ansichtskarten, die ihr Vater geschickt hatte, als sie ein kleines Mädchen gewesen war. Jennifer hatte die Karten mit einer Schnur zusammengebunden und stets wie einen Schatz gehütet. Heute fehlte ihr die Kraft, sie anzuschauen. Die Erinnerungen an ihre unbeschwerte Kindheit hätten ihre Trauer neu entfacht. Sie stellte den Karton zurück in den Schrank und kämpfte gegen die Tränen an.
Als
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