Projekt Wintermond
bleiben, knallen die uns ab wie Schießbudenfiguren.«
Carlo Perini langweilte sich zu Tode. Vor ihm lag eine der endlos langen Nachtschichten. Es regnete wie aus Eimern. Er träumte davon, endlich in seine Wohnung zurückzukehren und sich mit seiner Freundin wilden Sexspielen hinzugeben. Stattdessen saß er hinter einem Schalter am Bahnhof von Varzo und verkaufte Fahrkarten. Einen mieseren Job konnte er sich kaum vorstellen.
Einige schlecht gelaunte Fahrgäste warteten am Bahnsteig. Die meisten Züge hatten wegen des Unwetters Verspätung. Carlo hob den Blick, als sich ein Paar dem Schalter näherte. Die beiden waren pudelnass. Die Frau sah klasse aus – tolle Figur, hübsches Gesicht.
»Si?«
»Sprechen Sie Englisch?«, fragte der Mann.
Carlo zuckte mit den Schultern und hielt Daumen und Zeigefinger ein paar Millimeter auseinander. »Pochino.«
»Wir brauchen zwei Tickets für den nächsten Zug. Wohin er fährt, ist egal.«
»Prego?«
Der Mann erklärte es ihm noch einmal in aller Ruhe. Carlo verstand es trotzdem nicht. Auch nicht beim dritten und vierten Versuch, obwohl der Mann ein Blatt und einen Stift zu Hilfe nahm und sich der Zeichensprache bediente. Es dauerte fast drei Minuten, bis Carlo verstand. Offenbar wollten der Mann und die gut aussehende Frau mit dem nächsten Zug so schnell wie möglich Varzo verlassen. Eine kluge Entscheidung, dachte Carlo.
»Zug, wo jetzt kommen«, begann Carlo und suchte nach den richtigen Worten, »… fahre durch Simplon-Tunnel nach Brig in Schweiz.«
Das Paar schien ihn zu verstehen.
»Wann?«, fragte der Mann aufgeregt und zeigte auf die Uhr.
Carlo spreizte die Hand und hielt sie hoch. »Cinque minuti.«
Der Mann legte ein paar Geldscheine auf den Schalter.
Fünf Minuten später hielt der Zug nach Brig am Bahnsteig. Carlo beobachtete das Paar vom Schalterhäuschen aus. Sie stiegen mit den anderen Passagieren ein, und der Zug fuhr los. Ein seltsames Paar, dachte Carlo. Die beiden wirkten so besorgt, so unruhig.
Den schwarzen BMW, der vor dem Bahnhof hielt, und die beiden Schlägertypen, die ausstiegen, sah Carlo nicht. Die Männer in den Regenmänteln blickten dem davonfahrenden Zug nach. Dann rannten sie zum Fahrkartenschalter. Einer sagte auf Italienisch: »Verzeihung, ich glaube, uns ist der Zug vor der Nase weggefahren. Wohin fährt der Zug, der gerade den Bahnhof verlassen hat?«
Carlo hob den Kopf. Vor ihm stand ein blonder Mann um die vierzig mit einer brutalen Schlägervisage und einer Narbe über dem rechten Auge. Sein kräftiger Begleiter mit dem rasierten Schädel und den dunklen Augen musterte ihn mit durchdringendem Blick. »Brig«, sagte Carlo. »Das war der letzte Zug für heute. Der Nächste fährt erst morgen früh.«
»Hält er unterwegs?«
»Ja. In zwölf Minuten, in Iselle. Allerdings könnte sich das bei dem Unwetter verzögern. Der Zug hält mehrmals auf der Strecke.«
Der Blonde lächelte. »Vielen Dank auch.«
38
Mark und Kelso rasten nach Varzo. Der Regen hatte nachgelassen. Kelso saß am Steuer und starrte aufmerksam auf die nasse Fahrbahn.
»Sie haben meine Fragen nicht alle beantwortet, Kelso. Warum ist Jennifer in Gefahr, und wer will sie töten?«
Mark saß auf dem Beifahrersitz, Grimes auf der Rückbank. Um diese Zeit herrschte starker Pendlerverkehr. Plötzlich überholte ein winziger Fiat den Opel und jagte mit mehr als hundert Stundenkilometern an ihnen vorbei.
»Die fahren hier wie die Geisteskranken. Der Blödmann will sich wohl umbringen.«
»Beantworten Sie meine Frage, Kelso.«
»Okay. Ich werde es versuchen. Allerdings ist das alles reine Spekulation.«
»Ich höre.«
»Derjenige, der sich die zehn Millionen unter den Nagel gerissen hat, könnte sich einer plastischen Operation unterzogen und ein neues Leben begonnen haben.«
»Weiter.«
»Die Leiche, die in dem Gletscher gefunden wurde, wirft große Probleme auf.«
»Warum?«
»Weil die Polizei jetzt ihre Fühler ausstrecken wird – so wie der Moskaja-Klan, um endlich zu erfahren, was aus den zehn Millionen geworden ist. Der Schuldige wird alles daransetzen, dass die Bluthunde seine Spur nicht aufnehmen.«
»Und darum ist Jennifers Leben in Gefahr?«
»Das ist einer der Gründe. Sie sollten noch etwas wissen. Der commissario, der in dem Fall ermittelt hat, hieß Caruso. Er und seine Frau wurden heute Nachmittag in ihrem Haus erschossen aufgefunden. Die kriminaltechnischen Untersuchungen weisen darauf hin, dass Caruso seine Frau erschossen und
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