Projekt Wintermond
zog den Hebel der Notbremse. Mit ohrenbetäubendem Quietschen rutschten die blockierten Räder über die Schienen. Der Zug schaukelte so stark, dass sie beinahe das Gleichgewicht verloren hätten. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis der Zug endlich zum Stehen kam. McCaul riss die Tür auf und sprang hinaus. Von den Schienen senkte sich ein kleiner Abhang zu einer düsteren Straße hinunter, die vom schwachen Licht mehrerer Straßenlaternen beleuchtet wurde. »Springen Sie!«
Jennifer sah sich um. Weit und breit deutete nichts auf eine Ortschaft hin. »Wo gehen wir hin?«
»Wir versuchen, uns bis Brig durchzuschlagen, dann sehen wir weiter. Kommen Sie, Jennifer. Steigen Sie endlich aus.«
Jennifer stand noch immer unter Schock. Verwirrte Fahrgäste traten auf den Gang und starrten aus den Fenstern. McCaul streckte den Arm aus. »Verdammt, Jennifer! Springen Sie!«
Sie ergriff seine Hand und sprang. McCaul führte sie den Abhang hinunter.
VIERTER TEIL
43
Schweiz
Es war ein abgelegener Bauernhof. Das nächste Dorf war drei Kilometer entfernt. Der Mann lebte hier allein mit zwei schwarzen Dobermännern, die stets in seiner Nähe waren. Als er von der Scheune, in der er gerade die Kühe gemolken hatte, zurück ins Haus ging, sprangen die Hunde plötzlich laut bellend umher. »Sitz, Hans! Sitz, Ferdi!«
Die Dobermänner gehorchten aufs Wort. Der Mann stellte die Milcheimer in die Küche und wischte sich die Hände an seiner verdreckten Arbeitsjacke ab. Er war kräftig gebaut und trug grüne Gummistiefel. Sein von Wind und Wetter gegerbtes Gesicht wies Spuren von Frostbeulen auf. Obwohl der Facharzt für plastische Chirurgie sein Bestes gegeben hatte, fehlten ein Stück Fleisch an der Nasenspitze sowie drei Finger der linken Hand.
Der Mann leckte sich nervös mit der Zunge über die Lippen und spähte durch die Gardinen, ehe er an den Tisch zurückkehrte, auf dem neben einem Stapel Zeitungen ein Zeiss-Fernglas lag. Der Mann setzte es an die Augen und blickte auf die Hauptstraße, die einen halben Kilometer von den zerklüfteten westlichen Ausläufern des Wasenhorns entfernt verlief. Es war nichts zu sehen – weder Fahrzeuge noch Menschen. Dennoch war der Mann sich ganz sicher, dass sie irgendwo dort draußen warteten und ihn beobachteten.
Seitdem er von der Entdeckung der Leiche im Eis gehört hatte, lebte er in Angst und Schrecken. Vor drei Tagen hatte er den Wagen mit den beiden Männern bemerkt, die seinen Hof observierten. Er ließ das Fernglas sinken und zog die Sig Sauer aus der Tasche. Ein prüfender Blick auf das mit 9-mm-Patronen bestückte Magazin beruhigte ihn. Die Waffe bot ihm für den Ernstfall Sicherheit.
»Hans! Ferdi! Kommt her!«
Die riesigen Hunde rannten zu ihm, und er streichelte sie. Die Dobermänner würden einen Menschen auf seinen Befehl hin sofort töten. Mit ihren kräftigen Kiefern konnten sie die Kehle eines Menschen mit einem Biss zerfetzen. »Ferdi! Hans! Raus!«
Die Hunde rannten zur Tür und setzten sich auf die Veranda. Der Blick des Mannes schweifte zum Videogerät, das in einer Ecke der Küche installiert war. Zwei Überwachungskameras fingen die Vorder- und Rückseite des Hauses ein. Der Mann hatte die Kameras sicherheitshalber eingebaut. An diesem Abend entdeckte er nichts Ungewöhnliches auf der Schottereinfahrt und der Straße. Er drückte auf eine Taste am Monitor, worauf die Scheune und die Garage erschienen. Es war alles in Ordnung.
Der Mann steckte die Waffe erleichtert in die Tasche. Er lebte in ständiger Angst, sein Geheimnis könnte durch den Fund der Eisleiche aufgedeckt werden. Sollten sich ungebetene Gäste seinem Hof nähern, würde er nicht lange fackeln und sie kurzerhand töten.
44
New York
Lou Garuda fuhr in seinem Porsche durch Manhattan. Die Prime International war einst in einem der imposantesten Gebäude an der Fifth Avenue untergebracht gewesen. Die beeindruckende Architektur aus Spiegelglas und poliertem Metall strahlte Reichtum und Macht aus. Diese Typen haben Geld wie Heu, dachte Garuda, als er am Gebäude vorbeifuhr.
Garuda war mit der Internetrecherche nicht zufrieden. Deshalb hielt er es für klug, einem der ehemaligen stellvertretenden Direktoren einen Besuch abzustatten. Frederick Kammer arbeitete heute bei einer anderen Investmentbank in Manhattan, der Cavendish-Deloy. Garuda betrat durch eine Drehtür die Eingangshalle. Sie war mit italienischem Marmor ausgelegt und mit kunstvollen Wandmalereien verziert. Eine Frau mittleren
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