Prophetengift: Roman
voneinander, wir sind eins. Aber das Wichtigste ist: Ich habe keine Angst, und ich möchte, dass du meinem Papa und meiner Mama sagst, dass ich okay bin.«
»Hast du versucht mit ihnen zu reden?«
»Ja, aber niemand kann mich hören. Es ist, als wäre man in einem Schwimmbecken unter Wasser und würde versuchen, jemandem, der auch unter Wasser ist, etwas zuzurufen – du kannst dich selbst hören, aber die anderen können dich nicht hören, egal wie laut du schreist.«
»Wer hat dir das angetan?«
»Zwei Arschlöcher – einer war betrunken – in einem großen schwarzen Geländewagen mit Winterreifen und einer eingebeulten Fahrertür. Sie waren etwa in meinem Alter, vielleicht ein bisschen älter. Ich habe ihnen nichts getan, und sie haben gelacht, als sie mich zusammenschlugen – als wollten sie voreinander damit angeben, wie gut sie mir das Gesicht zertrümmern können. Und sie haben es nur deshalb getan, weil ich schwul bin. Ich habe sie sagen hören, wenn man sie erwischt, würden sie behaupten, ich hätte sie angebaggert und es sei Selbstverteidigung gewesen. Als ob ich solchen wertlosen Dreckstücken wie diesen beiden auch nur einen zweiten Blick schenken würde!«
»Kann ich irgendwas tun, um dir zu helfen?«
»Nein, nichts. Du kannst nichts tun. Und ich gewöhne mich langsam an die Idee, irgendwo anders hinzugehen – aber was mich wirklich stocksauer macht, ist der Gedanke an all das, was ich verpassen werde.«
»Was zum Beispiel?«
»Einmal ... als ich in einer Bar in San Francisco war, habe ich diese beiden alten Knacker gesehen – der eine war Mitte sechzig, dick und kahlköpfig, der andere wahrscheinlich so zwischen siebzig und achtzig. Und ich dachte, ist es nicht schön für die beiden, dass es einen Ort gibt, wo sie Männer wie mich angucken können – du weißt schon, schöne junge Männer –, und war ganz eingenommen von mir selbst. Als sie aufstanden, weil sie gehen wollten, sah ich, wie dünn der Ältere war, er wog bestimmt keine fünfzig Kilo. Er trug neue weiße Schuhe und eine perfekte beige Hose mit passendem Jackett, als hätte er sich für den Besuch in einer Schwulenbar extra in Schale geworfen.
Die beiden standen an der Straßenecke und warteten darauf, dass die Ampel auf Grün umsprang. Sie sahen aus wie jedes andere alte Paar, das seit Ewigkeiten zusammen ist, und ich sah ihnen nach, als sie die Straße überquerten. Sie wirkten so verwundbar, aber ich begriff plötzlich, sie waren einfach glücklich, zusammen zu sein und nach Hause gehen zu können, um sich um ihre Hunde oder Katzen zu kümmern und den Abend so zu verbringen, wie sie es die letzten vierzig Jahre getan hatten. Und ich fing an, mir zu überlegen, was sie alles durchgestanden hatten, die Schwulenrechtsbewegung, Harvey Milks Ermordung und AIDS und die Homo-Ehe, aber sie wollten nur eins, nach Hause kommen und morgens zusammen aufwachen und einen heißen Kaffee trinken. Und ich dachte, das möchte ich auch mal haben.
Und jetzt werde ich all das nicht haben. Ich werde diese ruhigen häuslichen Momente nicht haben, und ich werde nie herausfinden, ob Dominic der Mann war, der auf mich gewartet hat. Wir werden uns jetzt nicht am Samstag am Strand treffen, wir werden nie zusammen unsere erste gemeinsame Wohnung aussuchen oder uns überlegen, welchen Hund wir aus dem Tierheim holen wollen. Und das macht mich so verdammt traurig, dieses Wissen, dass er irgendwo da draußen ist – mein
ganz besonderer Mensch –, aber wir werden nie erfahren, ob es mit uns geklappt hätte, weil diese beiden Arschlöcher, die mich umgebracht haben, uns das genommen haben!«
»Würde es dich trösten, wenn ich alles daransetze, sie zu finden«, fragte Sebastian, »damit sie für das bezahlen, was sie dir angetan haben?«
»Was geschehen ist, ist geschehen – diese Typen haben ihr Karma bereits mit anderen Taten ruiniert. Mir ist gezeigt worden, dass das Leben nichts als Unglück für sie bereithalten wird. Aber es wäre schön, wenn du dafür sorgen könntest, dass sie so was nicht noch jemandem antun – ich will nicht, dass noch jemand durchmachen muss, was mein Papa im Augenblick durchmacht. Ich weiß nicht, wie er es schaffen soll, meine Mutter zu pflegen und trotzdem noch seiner Arbeit nachzugehen. Und wer wird sich um ihn kümmern, wenn er dem Ende nahe ist? Ich sollte derjenige sein, der ihm hilft.«
»Ich werde mich um ihn kümmern«, versprach Sebastian. »Aber Mateo, was kann ich deinem Vater sagen, damit er
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