Prophetengift: Roman
erzählt, dass Sie«, sie hustete schwach, »aus irgendeiner alten Familie stammen, die versucht Armageddon zu verhindern. Also warum wollen Sie jetzt diesen Krieg entfachen?«
»Gott hat mir gezeigt, dass die Zeit endlich gekommen ist. Wir leben in genau dem Jahr, auf das meine Familie seit zwei Jahrtausenden gewartet hat. Und Sie, meine Freundin, sind diejenige, mit der alles beginnen wird. Sie sind diejenige, die das höchste Opfer bringen muss.«
»Habe ich denn noch nicht genug geopfert?« Krank vor Reue dachte Amber an Dyson, und dann dachte sie an ihren kleinen Sohn und fragte sich, ob er wohl glücklich war.
Olivier hatte schon bei seinem ersten Gespräch mit Amber, als sie das »Bootsunglück« geplant hatten, das Bild eines blonden kleinen Jungen aufgefangen, und jetzt sah er es wieder. »Sie wissen bereits, was ich von Ihnen fordern werde? Gott ist groß!«
»Warum verlangen Sie so etwas von mir?«
»Aber ich bin es doch nicht, der das von Ihnen verlangt, Schwester. Es ist Ihre Mission .«
»Aber woher soll ich wissen, dass Sie sich das alles nicht nur ausdenken?«
»Gott hat mir gesagt, dass Sie das befürchten könnten, und so hat er mir noch eine Vision gewährt. Er hat mir gezeigt, dass ihr kleiner Sohn glücklich und in Sicherheit ist und aufwächst wie ein starker Baum.«
Amber riss die Augen auf. »Sie wissen von Eldon?«
»Gott ist groß«, wiederholte Olivier.
»Aber nicht einmal Dyson wusste von ihm! Nachdem mein Vater mich gezwungen hatte, mein Kind aufzugeben, habe ich mir eingeredet, es hätte den Jungen nie gegeben.« Sie begann zu weinen. »Geht es ihm wirklich gut? Wissen Sie, wo er ist?«
»Ich weiß ganz genau , wo er ist«, log Olivier. »Und ich werde es zu meiner persönlichen Mission machen, dafür zu sorgen, dass er alles hat, was er braucht. Aber Gott hat mich nur bezüglich Ihres Sohnes erleuchtet, damit ich Sie davon überzeugen kann, wie dringend er Ihr Opfer braucht. Sind Sie gewillt, mich anzuhören?«
Sie schniefte. »Ja, bin ich wohl.«
Olivier glitt auf seinem Stuhl ganz nach vorn. »Es gibt einen von Ewigkeit her bestehenden Entwurf für Ihr Leben – Sie sind dazu bestimmt, diese heiligste aller Missionen durchzuführen, genau wie das Leben von Judas festgeschrieben wurde, damit er seine Mission ausführen konnte. Muss ich Sie daran erinnern, dass Sie keinen Mann haben und keine Kinder, die Sie großziehen müssen? Und seit dieser schrecklichen Wendung der Geschehnisse sind Sie auf tragische Weise entstellt.« Er rutschte näher an sie heran. »Sogar bei den heidnischen Katholiken gilt Judas als Heiliger – wegen der Rolle, die er beim Tod unseres Erlösers gespielt hat, und wegen seines Märtyrertodes an dem heiligen Baum in Gethsemane. Und ich muss ja wohl nicht daran erinnern, dass es ohne Judas keine Kreuzigung gegeben hätte, und ohne die Kreuzigung wäre die Menschheit noch immer bis in alle Ewigkeit verdammt.« Er lehnte sich zurück und legte die Hände auf die Armlehnen des Stuhls, als wäre es ein Thron. »Ebenso wie Judas werden Sie, Schwester Amber, von eigener Hand den Märtyrertod sterben und damit die letzten Tage der Welt einläuten. Aber im Gegensatz zu dem armen Judas wird man Sie in alle Ewigkeit für Ihren Glauben an Gott preisen, nicht für einen Verrat an ihm.«
Amber schwieg, während sie seine Worte auf sich wirken ließ.
»Erzählen Sie mir mehr von Ihrer Vision«, sagte sie schließlich.
Er hatte gehofft, dass sie fragen würde, denn er war am Morgen extra früh aufgestanden, um seinen Text zu verfassen und einzuüben:
»Gestern beim Abendgebet hatte ich eine Vision. Ich sah zwei Schafe«, sagte Olivier in einem Ton, als würde er ihr eine Gutenachtgeschichte erzählen. »Das eine war ein Lamm mit einem Fell so weiß wie Schnee, das andere war ein kohlschwarzer Bock. Das weiße Lamm war verspielt ... wie ein unschuldiges Kind hüpfte es über eine blühende Frühlingswiese, während die Sonne von einem tiefblauen Himmel schien. Aber dann erschien der schwarze Bock mit seinen roten, glühenden Augen und scharfen Fängen und begann das weiße Lamm zu jagen.« Olivier senkte die Stimme. »Anfangs versuchte das weiße Lamm sich mit ihm anzufreunden, aber das schwarze Lamm wollte nur die Unschuld des weißen Lamms rauben und es mit seinem vergifteten Samen zerstören. Dieser teuflische Bock« – Olivier flüsterte jetzt – »bestieg das entsetzte Lamm, eine Tat, die die Engel zum Weinen brachte. Dann, nachdem die entsetzliche
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