Prophetengift: Roman
Katze ihn erwischt? War er vorübergehend benommen gewesen, hatte sich dann aber erholt und war fortgeflogen? Er fragte sich auch: Warum habe ich das eben getan?
Er bekam nie eine Antwort auf diese Fragen. Er erinnerte sich nur noch an das Geräusch, mit dem das Projektil die arme Taube getroffen hatte, und daran, wie das Echo dieses Geräusches in seinem Kopf ihn beinahe dazu gebracht hätte, sich zu übergeben – was bis heute so geblieben war.
Und genauso empfand Sebastian bei Luke: Der Junge hatte nicht den friedlichen Tod bekommen, den Gott und medizinische Opiate ihm hätten gewähren können. Stattdessen hatte Vogelschrot gemischt mit Schießpulver sein Fleisch, seine Knochen und seine inneren Organe zerfetzt.
Wegen mir. Und weil ich auf Kitty gehört habe.
Sebastian ließ den Kopf hängen.
Und da erkannte er, dass es bei diesem Spiel, das seine Mutter da spielte, nicht nur um Geld ging, sondern auch um Macht – eine Macht, die er nicht wollte.
Ja, er glaubte wirklich daran, dass er der Erste einer neuen Spezies Mensch war. Aber was bedeutete das?
Bedeutete es, dass er hinausgehen und die Botschaften verbreiten musste, die Kitty angeblich in ihren Meditationen empfing, um ihr bereits großes Vermögen noch zu vermehren? Oder dass er seine Zeit damit zubringen sollte, so viele Mädchen wie möglich zu vögeln, um seine »erstaunliche DNA« in der Bevölkerung zu verbreiten?
Ich nehme an, irgendwann werde ich es schon rauskriegen. Zeit, sich auf den Weg zu machen .
Er stand auf und warf einen letzten Blick auf das Meerespanorama: auf die Felsen, die aussahen wie Riesenbrötchen, die in der Bucht trieben, und den sonnenbeschienenen Riementang, der im Wasser funkelte wie Ziermünzen.
Als er endlich bereit war, seine Reise fortzusetzen, hinterließ er die übrig gebliebenen Muffinstückchen auf einem umgestürzten Baumstamm als Gabe für die Vögel – und als Buße dafür, dass er damals der unschuldigen Taube Schaden zugefügt hatte. Dann trabte er zurück über die Straße und schloss den Wagen auf.
Kurz darauf brauste er weiter Richtung Norden und dachte: Zumindest werde ich bei Coby meine Ruhe haben.
23
Wie kann er mir das nur antun?
Kitty war spät aufgestanden, nachdem sie sich die ganze Nacht schlaflos in den Laken gewälzt hatte. Sie hatte ihren Laptop aufgeklappt, um Sebastians Aufenthaltsort festzustellen, und musste entdecken, dass er keineswegs nach Hause unterwegs war, sondern Richtung Norden durch Big Sur fuhr, vermutlich mit Ziel San Francisco – er hatte Santa Cruz passiert und fuhr gerade durch Santa Clara. Zudem stellte sie fest, dass er sich nicht die Mühe gemacht hatte, ihre E-Mails zu beantworten. Er hatte sie ebenso ignoriert wie die flehentliche Nachricht auf seiner Mailbox und die SMS, die sie gestern Abend vor dem Zubettgehen geschickt hatte.
Ganz offensichtlich hatte er nicht die Absicht, heute in Larrys Kanzlei zu erscheinen, um eine eidesstattliche Erklärung abzugeben, und offensichtlich war es ihm ganz egal, dass er alles auf ihren Schultern ablud.
Mist!
Sie zündete sich die erste Zigarette des Morgens an und telefonierte mit Larry. »Er kommt nicht nach Hause«, teilte sie ihm mit. »Was soll ich machen?«
»Tun Sie, was Sie können, damit er herkommt.« Larrys Worte kamen knapp und eindringlich. »Übrigens, ich war den Großteil der Nacht wach und habe Ihre Website nach psychologisch nötigender Sprache durchforstet.«
»Haben Sie etwas gefunden?«
»Natürlich! Sie müssen vorsichtiger sein und mehr darauf achten, was Sie da reinstellen. Ich bin überrascht, dass Ihnen so etwas nicht schon vorher passiert ist.«
»Zeigen Sie mir eine Religionsgemeinschaft, die nicht auf die Verrücktheiten ihrer Mitglieder spekuliert, und ich ...«, sie nahm einen kräftigen Zug von ihrer Zigarette, »zeige Ihnen eine bankrotte Sekte.«
»Darüber reden wir später. Sie sollten wissen, dass der Anwalt der Gegenpartei einen Termin für morgen um vierzehn Uhr angesetzt hat. Sie müssen erscheinen, ob mit oder ohne Ihren lieben Sohn.«
»Aber Sebastian hat mit diesem armen kranken Kind und seinen Eltern gesprochen, nicht ich, Larry. Ich habe keine Ahnung, was er ihnen erzählt hat«, log sie. »Gibt es da nicht irgendeine Vertraulichkeitsklausel zwischen Priester und Gemeindemitgliedern, auf die Sie Ihre Verteidigung aufbauen können?«
Larry lachte. »Ich glaube kaum, dass es sinnvoll wäre, jetzt bei der katholischen Kirche nach juristischen Präzedenzfällen zu
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